Siehe zum Thema auch:
Annelie Ramsbrock, Vom Schlagstock zur Sozialtherapie. Gewalt in westdeutschen Gefängnissen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 277-301, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2018/5591
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So verdienstvoll und erhellend der Versuch ist, die sich virusartig ausbreitende Diskursfigur “Verschwörungstheorie“ historisierend und kontextualisierend zu „entschwören“, so bleibt doch nach der Lektüre das Phantomgefühl einer abgeschnittenen und inkohärenten Behandlung des Themas. Das betrifft vor allem das semantische Framing diese Topos‘ ins Pathologische. Ein solches Herangehen ist der Plausibilität des historiographisch-begrifflichen Nachzeichnens abträglich zugunsten einer normativen, denkleitenden Stoßrichtung.
So heißt es: „Tatsächlich gibt es gute Gründe, die verbreitete Eliten-Skepsis als ein historisch neuartiges Phänomen zu begreifen, das mit dem Strukturwandel moderner Gesellschaften seit den 1970er Jahren verbunden ist.“
Der Text selbst bietet nun hingegen gerade Belege für das Gegenteil: Tatsächlich gibt es gute Gründe, die verbreitete Eliten-Skepsis als ein historisch tief verwurzeltes Phänomen zu begreifen, seit Beginn der schriftlich überlieferten Geschichte. Ja, man könnte die überlieferte Geschichte auch als Geschichte von Verschwörungen und den dazugehörigen Theorien begreifen, so wie sie Marx als Geschichte von Klassenkämpfen begriffen hat. Das führt zu der Frage, inwiefern umgekehrt dann jegliche Elitenkritik als „Verschwörungstheorie“ in dem nach dem Kennedy-Mord 1963 pathologisch aufgeladenen Sinne zu denunzieren wäre. In diesem Falle müßte dieses Verdikt konsequenterweise auf jede Art von Revolte und Revolution gegen etablierte Herrschaftsformen und -eliten ausgeweitet werden, denn sie gingen alle auf die eine oder andere Weise auf Elitenkritik, vulgo „Verschwörungstheorien“ zurück, von den Schriften der Französischen Aufklärer des 18. über diejenigen der unterschiedlichen Sozialismus-Strömungen des 19. Jhs. einschl. der Religionskritik Feuerbachs et al. bis zu Lenin und seinen Epigonen. Die „Reaktion“ darauf waren etwa die Karlsbader Beschlüsse, die papistisch inspirierte Demagogenverfolgung, der Index librorum prohibitorum, die Sozialisten-Gesetze, die Dolchstoß-Legende usw. usw.
Der Verschwörungsvorwurf ist seit je eine wirksame Diskurskeule der herrschenden Klassen gegen die sich aufbäumenden beherrschten, der Unterdrücker gegen die Unterdrückten. Im Grunde ist der beste Teil der Weltliteratur von Dickens über Hugo bis zu Brecht nichts anderes als „Verschwörungstheorie“ avant la lettre, weil Elitenkritik. Diesen Aspekt von „Verschwörungstheorien“ als ideologisch-propagandistisches Herrschaftsinstrument bleibt in diesem Text leider unbelichtet.
Ähnliches ließe sich über die Funktion von „Verschwörungstheorien“ in der Geschichte der internationalen Beziehungen sagen, insbesondere als Kriegsbegründungen und der bedarfsweise Kreation eines „Casus belli“, ein überaus spannendes Thema. Von der „Emser Depesche“ Bismarcks, der "Jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" der Hakenkruezler, die Tonking-Affäre in Vietnam und die Brustkasten-Nummer in Kuwait bis zur Račak-Affäre in Serbien, um nur diese zu nennen, ist dies eine Kette von Theorien tatsächlicher oder eingebildeter "Verschwörungen“ an die Adresse der Kriegsgegner.
Nach dem 2. WK beruhte die Bündnisarchitektur der gesamte Weltpolitik auf der nach den „Protokollen der Weisen des Zion“ wohl gigantischsten aller Verschwörungstheorien, nämlich der Hypothese, der Kreml hätte nichts anders zu tun, als bei erster sich bietender Gelegenheit über den Westen herzufallen und die Weltherrschaft zu erobern. Von der adjektivischen Wortkombination "jüdisch-bolschewistisch wurde kurzerhand der erste Teil abgetrennt, unter Beibehaltung des zweiten. (Mutadis mutandis erlebt sie in den heutigen Expansions-Vorwürfen an die Adresse Moskaus eine bizarre Auferstehung.) In diese russophobe Schußrichtung kann man also das Blaue vom Himmel mutmaßen, ohne die Männer mit den weißen Kitteln befürchten zu müssen. So sieht etwa der frühere NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hinter der Anti-Fracking-Kampagne und die Bundeskanzlerin hinter der „Fridays-For-Future“-Bewegung die lenkende Hand des Kremls. Auch hinter der Abhöraffäre in Warschau vor einigen Jahren konnte nur Putin stecken: „Ich weiß nicht, in welchem Alphabet das Szenario (der Affäre) geschrieben wurde, aber ich weiß, wer der Nutznießer von Chaos im polnischen Staat sein kann“, so der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk.
Auffälligerweise genießen diese „Verschwörungstheoretiker“ eine wundersame publizistische Immunität, die sie davor bewahrt, mit jenen Leuten in einen Topf geworfen zu werden, die die Mondlandung für einen dreisten medialen Fake halten, Elvis noch unter den Lebenden wähnen, die Illuminaten als Hintermänner der Französischen Revolution vermuten, die Luftangriffe auf New York und Washington am 11. September 2001 für einen Insider-Staatsstreich halten usw., kurz, mit Leuten, die nicht alle Tassen im Schrank haben, nicht wahr. Bleibt die spannende Frage, nach welchen Sortierkriterien die Verschwörungstheoretiker entweder ins Töpfchen oder ins Kröpfchen gehören...
(vgl. https://www.freitag.de/autoren/reinhardt-gutsche/die-unsichtbare-hand-desmeinungsmarktes)