L.I.S.A.: Wie Sie sagen, stehen die beiden Adjektive heute im weitesten Sinne für Nüchternheit: “Lakonisch” für eine Nüchternheit im sprachlichen Ausdruck, “spartanisch” für Nüchternheit in Lebensstil und Einrichtung. Müssen wir uns die antiken Spartaner als einfach eingerichtete und wortkarge Menschen vorstellen? Was berichten die antiken Quellen darüber?
Dr. Reitzenstein: Schon in der Antike idealisierten gebildete Autoren die prägnante Ausdrucksweise der spartanischen Elite, und zwar sowohl die der Männer als auch die der Frauen. Im überlieferten Werk des griechischen Autors Plutarch, der im Römischen Reich im 1. und 2. Jh. n. Chr. lebte und wirkte, finden sich Sammlungen von Aphorismen, die spartanischen Persönlichkeiten zugeschrieben werden. Diese Aussprüche spiegeln eine Idealwelt, die Andrew G. Scott auf ein bestimmtes Bild zurückführt, das die Spartaner im 5. Jh. v. Chr. selbst gesteuert hätten. Sie thematisieren die Bereitschaft der spartanischen Elite, im Kampf zu sterben, auch die Auswechselbarkeit ihrer Bürger, welche Rolle die Erziehung bei der Entwicklung von Mut spiele und wie die spartanischen Frauen über männliches Verhalten richteten.
Nur weil diese markigen Sprüche den Eindruck vermitteln, Sparta sei so, war Sparta nicht zwangsläufig so – Denkmuster dieser Art werden heute beispielsweise sichtbar an Diskussionen über Fake News oder in den gender studies. Der Athener Thukydides (4,40) entlarvt ein solches Denken – und zwar auf Seiten der Spartaner wie auch der übrigen Griechen – am Beispiel der Ereignisse von Sphakteria 425 v. Chr.: Er resümiert, wie unerwartet sich in dieser Episode des Peloponnesischen Krieges, also des verlustreichen militärischen Kräftemessens zwischen Athen und Sparta, die Lakedaimonier – die antike Selbst- und Fremdbezeichnung der Spartaner! – ergeben hätten. Die übrigen Griechen hätten doch geglaubt, die Lakedaimonier gäben nie auf. Ein Verbündeter Athens habe die gefangenen Spartaner kränken wollen und zynisch gefragt, ob nur die toten Lakedaimonier, die im Kampf gefallen und nicht gefangen genommen worden seien, die perfekten Helden wären. Thukydides zitiert nun die (vermeintlich?) lakonische Antwort eines Lakedaimoniers, nämlich wie viel wert Geschosse wären, wenn sie sich nur die Tapfersten aussuchten. Anschließend interpretiert Thukydides diesen lakonischen Satz: Er stellt klar, die spartanische Aussage ziele darauf ab, den Zufall des Fernkampfes für den Tod der Lakedaimonier verantwortlich zu machen – konkret den Angriff mit Geschossen und nicht Mann gegen Mann.
Der bei Thukydides zitierte Spruch passt in das Bild auch anderer Bonmots, die mit spartanischer Lebensweise in Verbindung gebracht werden. Aber: Mit den lakonischen Worten bei Thukydides ist der Mythos der spartanischen Kampftaktik zwar nicht entzaubert, doch lassen sie die spartanische Militärführung vor allem rückschrittlich oder ineffektiv erscheinen. Man kann sich also fragen, ob Thukydides hier die lakonische Art sich auszudrücken mit einer bestimmten Darstellungsabsicht verknüpft, wie die Lakedaimonier gesehen werden sollen, was wiederum nicht identisch ist mit der Art, wie sie gesehen werden wollen. Ein solcher Ausspruch von spartanischer Seite ist zwar denkbar, muss deshalb aber nicht zwangsläufig ein historisch-lakonischer Ausdruck gewesen sein. Thukydides’ anschließende Exegese dessen, was einerseits gesagt und was andererseits gemeint sei, lässt die Lakedaimonier in ihrem sprachlichen Geschick sich auszudrücken begrenzt erscheinen – was ebenfalls zu hinterfragen ist.
Der politisch-militärische Grundkonflikt zwischen Sparta und Athen kann zeitgenössisch aus ideologischen Gründen auf die Art, sich auszudrücken oder zu leben, übertragen worden sein. Schon bei Thukydides in seinem Geschichtswerk ist der Gegensatz der Systeme ausgeformt: das oligarchische Sparta vs. das demokratische Athen, Landmacht vs. Seemacht, schlichter Ausbau der Polis Sparta vs. üppige Monumentalität Athens. Spartanisch wird so zum Inbegriff der Nüchternheit im Gegensatz zum anspruchsvollen, komplexen oder bunten Lebensstil, der Athen unterstellt wird. Diese Binarität lässt sich auch auf die attische Rhetorik im Unterschied zur Kürze des Lakonismus übertragen oder sogar mit Männlichkeit (Sparta) vs. Weiblichkeit (Athen) verknüpfen. Dass Sparta auf ihre Fähigkeiten als Landmacht begrenzt wird, macht vor dem Hintergrund wenig Sinn, dass sich Spartas Einfluss bis Sizilien und weit in den Ägäisraum erstreckt hat. Maria Fragoulaki hat untersucht, wie Thukydides das Einflussgebiet Spartas gezielt begrenzt darstellt. Bei der Rezeption durch nachfolgende Generationen werden solche Vorstellungsmuster und Gegensätze weitergetragen und ausgeschmückt, die bei der Rekonstruktion historischer Verhältnisse nicht hilfreich sind – und zwar sowohl für die Geschichte Spartas als auch für diejenige Athens.