Wir wurden gebeten utopische Ideen für die Geschichtswissenschaften zu formulieren. Ein schöner Gedanke, dem wir allerdings nur bedingt entsprechen konnten. Das mag an der Überzeugung liegen, dass Utopien nur so gut sind, wie die sie begleitenden Problemanalysen. Vielleicht hat der existierende Druck aber auch unsere Fähigkeit eingeschränkt optimistisch auf eine mögliche Zukunft zu blicken. In diesem Fall würde die Unfähigkeit Utopien zu formulieren, deren Notwendigkeit belegen.
Der Weg in die Wissenschaft ist – entgegen dem Konzept der „Bestenauslese“ – von Zufall und Privileg beeinflusst. Den Zufall wird man wohl kaum eliminieren können, aber die Rolle des Privilegs gehört verkleinert. Zentral ist schon eine Verbesserung der Bezahlung studentischer Beschäftigter, denn nur wer es sich leisten kann, nimmt diese Stellen an, die oft erste persönliche Kontakte in den akademischen Betrieb ermöglichen. Wer als Hilfskraft mitkriegt, wie Drittmittelprojekte ausgeschrieben werden, ist nach dem Masterabschluss in einer guten Position für eine Bewerbung. Manch eine*r hat den akademischen Kontakt sogar schon von Haus aus. Wer dieses Glück hat, hat statistisch dann auch eine bessere Chance, sich auf Stipendien zu bewerben. Wer hat, dem wird gegeben. Und wer nicht hat, der muss bei jedem Karriereschritt „all-in“ gehen und sich dann mit miesen Arbeitsbedingungen zufriedengeben.
Grundsätzlich gehören Studien- und Promotionsstipendien abgeschafft. Sie sind zu niedrig, bieten keine soziale Absicherung und als Promovierende*r muss man – je nach Gutdünken der Verantwortlichen – den vollen Beitrag in die gesetzliche Krankenkasse zahlen. Das Geld, das der Bund für Stipendien, die bisher nicht an die Inflationsentwicklung angepasst wurden, ausgibt, sollte erhöht und für einen Ausbau von Promotionsstellen verwendet werden.
Eine weitere Quantifizierung der Geschichtswissenschaften ist albern. Ob es wissenschaftshistorisch am Siegeszug der Naturwissenschaften liegt, oder am Marktradikalismus der letzten Jahrzehnte: in den Geschichtswissenschaften besteht ein weiter wachsender Kult an quantifizierbaren Ergebnissen. In der Medizin und anderen Fächern werden die Grenzen eines messbaren „Impacts“ von Journals diskutiert (eine errechnete Zahl, die den Einfluss einer Zeitschrift anhand der Häufigkeit bemessen will, mit der ihre Beiträge zitiert werden) und wächst der Widerstand gegen die Praktiken der großen Wissenschaftsverlage, die Gewinne aus unbezahlter Arbeit erzielen, durch den Bedarf der Publizierenden nach Reputation aber als Gatekeeper oft unumgänglich sind. In den Geschichtswissenschaften steigt dadurch der Druck, zu zählbaren Ergebnissen zu kommen. Ob ein wichtiges Dissertationsthema vielleicht eher in 5 als in 3 Jahren durchdrungen werden kann, spielt dabei keine Rolle.
Flexibilität wird gefordert, aber kaum gewährt. Drittmittelgeber verlangen häufig, was sie selbst nicht liefern. Wer schwanger wird, darf nicht kostenneutral verlängern, und wer sein Projekt unterbrechen möchte – etwa um ein Stipendium zu nutzen – meist auch nicht.
Diese strukturellen Probleme haben Auswirkungen auf die Inhalte und die Qualität der Forschung. Die Sprache vom „Projekt“ und die Logik, die sich daraus ergibt, zählt auf Ergebnisse in einem festgelegten Zeitraum: am besten quantifizierbar, am besten mit Aktualitätsbezug. Wer in seiner Forschung auf Material stößt, das für aktuelle Debatten interessant wäre, kann nicht einfach aussetzen und zunächst ein paar Monate dazu arbeiten. So wird die zeithistorische Fundierung aktueller Debatten eingeschränkt bzw. ist massiv vom Glück und von vor Jahren eingestellten Projektanträgen abhängig. Die Fixierung auf Output an Monografien und Aufsätzen geht klar zu Lasten der wirksamen Erkenntnis. Wie lange Wartezeiten im Archiv sind, spielt für die Geldgebenden ebenso wenig eine Rolle wie eine globale Pandemie: Projektlaufzeit bleibt Projektlaufzeit. In der Konsequenz wird geschichtswissenschaftliche Forschung zunehmend von Trendthemen beherrscht, für die Chancen auf Mittel Dritter bestehen, anstatt dass aus der Beschäftigung mit zunächst abseitig wirkendem Material neue Weichenstellungen entstehen.