“Das habe ich doch gerade gesagt”, sicherlich haben die meisten von uns schon einmal eine Situation erlebt, in der jemand, das, was man eben selbst geäußert hat, sinngemäß wiederholt, und man irritiert feststellen muss, dass dieser Person dafür Anerkennung und Aufmerksamkeit gezollt wird, die einem selbst versagt geblieben ist. Auf den ersten Blick erscheint die beschriebene Situation bekannt, unauffällig, aber nicht anstößig. Das wird sie erst, wenn wir beginnen, sie zu hinterfragen. War das eine einmalige Erfahrung? Oder geschieht es regelmäßig? Ist es immer die gleiche Person oder Personengruppe, die diese Erfahrung machen muss? Und sind es immer die gleichen, die sich die Inhalte anderer aneignen und damit Erfolg haben? Dann ist das Verhalten nicht mehr harmlos, sondern eine von zahlreichen Silencing-Strategien, die leider auch in der Geschichtswissenschaft zur akademischen Alltagskultur gehören.
Es ist davon auszugehen, dass die meisten von uns nicht nur über Erfahrungen mit dem alltäglichen Konkurrenzkampf um Stellen (Stichwort: #IchBinHanna) und Drittmittel verfügen, sondern bereits verschiedene Formen von Silencing erlebt haben.
Silencing ist ein verbreitetes Phänomen, dessen Dynamiken gerade für den Wissenschaftsbetrieb gut untersucht sind. Bereits in den 1970er Jahren wurde es von der norwegischen Sozialpsychologin Berit Ås als eine von fünf grundlegenden Herrschaftstechniken (master suppression oder domination techniques) beschrieben. Der Fokus (neuerer) Studien liegt stark auf marginalisierten Gruppen wie Frauen oder Academics of Colour. Intersektional angelegte Studien sind selten. Silencing ist per se kein auf Minderheiten beschränktes Phänomen, sondern kann jede*n treffen. Besonders gefährdet sind allerdings Individuen und Gruppen, die in bestehenden Machtkonstellationen ohnehin bereits benachteiligt werden.
Trotz des seit langem wissenschaftlich befestigten Wissens um Silencing zeigt dieses Phänomen große Beharrungskraft mit einer dementsprechenden Wirkmächtigkeit. Das liegt auch daran, dass die Grenzziehung oft nicht einfach ist, wie die eingangs geschilderte Situation verdeutlicht. Derartige Grauzonen verstärken die Wirkung von Silencing-Strategien, weil sie dazu einladen, nicht dieses Verhalten in Frage zu stellen und zu verurteilen, sondern die Wahrnehmung der Betroffenen, frei nach dem Motto: Sei doch nicht so empfindlich! Tatsächlich findet dadurch eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Das Perfide daran ist, dass die Betroffenen auf diese Weise doppelt ausgegrenzt werden.
Silencing bewegt sich daher wie viele Formen des Machtmissbrauchs häufig in einem Grenzbereich zwischen begründbarer Ablehnung und ungerechtfertigtem Fehlverhalten. Zudem beginnt es meist nicht erst mit dem offenbaren Klau von Forschungs- oder Projektideen oder dem sichtbaren Ausschluss, sondern bereits das eingangs beschriebene “Didn’t I just say this”-Syndrom, das viele von uns aus Instituts-, Gremiensitzungen oder Konferenzdiskussionen kennen, kann eine Form des Silencing sein.
Beim Silencing handelt es sich deshalb gerade nicht um ein situatives (unbeabsichtigtes) Nichtberücksichtigen einzelner Personen oder Gruppen, sondern um planvolles (wenngleich nicht immer reflektiertes) Handeln, das die eigene Machtposition sichern soll, in dem andere als kritisch oder Bedrohung für die eigene Position wahrgenommene Stimmen ungehört gemacht werden. Es geht um Kontrolle und Dominanz. Kontrolle darüber, wer was wann wie sagen und wahrnehmen darf.
Um dies zu erreichen, hält die akademische Kultur eine breite Palette an Handlungsmöglichkeiten bereit, so dass sich Silencing in vielen Erscheinungsformen zeigt: Durch Nicht-Zitieren einschlägiger Publikationen, obwohl diese bekannt sind. Im Gegenzug wird verstärkt das eigene Netzwerk zitiert, das dadurch prominenter und dominierender erscheint. Durch Nicht-Einladen zu Veranstaltungen oder Nicht-Anfragen für Kooperationen bestimmter Personen, obwohl sie thematisch einschlägig sind, um dadurch die eigene Innovationsfähigkeit zu betonen. Das gleiche Ziel verfolgt auch das Abkupfern von Tagungs-, Projekt- oder Publikationstiteln, um das Thema “neu” zu besetzen und damit vorangegangene Tagungen und Publikationen in den Hintergrund treten zu lassen, ohne dass eine signifikante Aktualisierung oder Neubewertung des Untersuchungsgegenstandes damit einhergeht. Durch negative Begutachtung, weil der Antrag als Konkurrenz zur eigenen Arbeit oder zum eigenen Netzwerk empfunden wird. Und auch wenn in der Geschichtswissenschaft die Frage der Namensreihung bei Publikationen nicht so heiß umkämpft ist wie in den Naturwissenschaften und der Medizin, werden immer wieder insbesondere prekär Beschäftigte und weniger Privilegierte nach hinten gereiht und damit unsichtbar gemacht.
Gemein ist diesen Beispielen, dass die zugrundeliegende Strategie darauf abzielt, die eigene (Macht-)Position und das eigene Netzwerk zu stärken - und zwar auf Kosten anderer. Dabei ist es nicht genug, diejenigen, gegen die sich derartige Strategien richten, klein zu machen, sondern Silencing geht noch einen Schritt weiter: Es will die Betroffenen in den sprichwörtlichen Mantel des Schweigens hüllen oder sie vielleicht sogar ganz verhüllen, um sie dadurch unsichtbar zu machen, so als existierten sie nicht. Silencing-Strategien sind etablierte Mittel zum Machterhalt und zur Machtausübung.
In diesem Zusammenhang können weitere Beispiele genannt werden wie etwa das Nicht-Einladen zu Bewerbungsgesprächen und das Nicht-Anstellen von Kandidat*innen trotz einschlägiger Qualifikation, weil sie eben nicht dem richtigen (lies: eigenen) Netzwerk entstammen. In extremen Fällen wird sogar versucht, über Einflussnahme auf Dritte Projekte oder Bewerbungen zu stoppen.
Viele von uns haben Erfahrungen mit diesen und anderen Formen des Silencing gemacht - die Liste der hier genannten Strategien erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beschränkt sich auf eine repräsentative Auswahl. Besonders betroffen sind Frauen und People of Colour. Eine intersektionale Perspektive zeigt, dass mehrfach diskriminierte Personen besonders unter Silencing zu leiden haben. Ihre Arbeiten werden unsichtbar, ihre Stimmen bleiben im geschichtswissenschaftlichen Diskurs ungehört - und befestigen so bestehende Macht- und Privilegienstrukturen. Diese sind in Wissenschaft und akademischer Kultur noch immer dominiert von weiß-maskuliner Heteronormativität, an der sich auch Silencing und Silencing-Strategien ausrichten.
Ein solches Verhalten schadet in erster Linie den Betroffenen. Aber auch die Geschichtswissenschaft als Disziplin wird dadurch nachteilig beeinflusst, weil wertvolle Expertisen und Perspektiven unterdrückt werden. Jenseits von Machtfragen und Überlegungen zur akademischen Kultur verstoßen die hier genannten Silencing-Strategien gegen das Ideal guter wissenschaftlicher Praxis, wenn wissent- und willentlich Forschungsergebnisse ignoriert werden. Auch die viel beschworene Forderung nach Exzellenz wird als leere Worthülle entzaubert, wenn sich diese auf das eigene Netzwerk beschränkt.
Deshalb, Historiker*innen, hört die Signale! Lasst uns den Mantel des Schweigens mit einem lauten Ratsch zerreißen und unsere Stimmen erheben – nicht nur für uns persönlich, sondern gerade für die, denen sie verwehrt wird. Denn “we rise by lifting others”, wie es die italienische Performance-Künstlerin Mariella Senatore so treffend formuliert hat.
Wir sehnen uns nach einer diversen und solidarischen Geschichtswissenschaft: Eine Geschichtswissenschaft, in der wir insbesondere den Stimmen prekär Beschäftigter und häufig diskriminierter Historiker*innen Raum geben, mehr noch ihre Stimmen verstärken. Eine Geschichtswissenschaft, die offen für Neues ist, die jenseits von etablierten Netzwerken, tradierten Machtgefügen und egoistischen Konkurrenzkämpfen agiert und Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Karrierewegen willkommen heißt, unterstützt und fördert, kurz: ihnen Sichtbarkeit verleiht und ihre Beiträge wertschätzt. Eine solche Geschichtswissenschaft erscheint tatsächlich wie eine Utopie; aktuell ist sie in weiter Ferne.
Eine Ursache dafür sind systemische Konstanten wie die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die die meisten von uns betreffen, und Organisationsformen, die Machtmissbrauch begünstigen. Die bestehenden hierarchischen und in vieler Hinsicht problematischen Strukturen dürfen jedoch keine Ausrede sein, im eigenen Umfeld mit Herrschaftstechniken wie Silencing zu walten und dem vermeintlichen Systemzwang zu folgen, anstatt zu versuchen, diese ungute Spirale zu durchbrechen und entsprechend der eigenen Möglichkeiten anders zu agieren.
Viele fragen sich vermutlich nun (und zurecht kritisch), wie das gehen soll. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, denen aufgrund ihrer Position mehr Macht und Ressourcen zur Verfügung stehen, es leichter haben, da sie die Regeln mitbestimmen (können). Das darf aber kein Grund für Passivität sein. Denn wir alle, die wir in der Geschichtswissenschaft aktiv sind, haben eine Verantwortung, dazu beizutragen, sie und ihre akademische Kultur gleichberechtigter, solidarischer und diverser zu machen. Je höher in der Hierarchie und je weniger prekär die eigene Position ist, desto größer ist die Verantwortung, auch im Kleinen einerseits Formen des Silencing als solche zu benennen und ihnen damit entgegenzuwirken und andererseits einen Beitrag zu leisten, andere hör- und sichtbar zu machen.
Die Erfahrung vieler ist jedoch eine andere. Zu wenige bemühen sich um einen solchen Kulturwandel. Das hat vielfältige Gründe und wird durch eine Wissenschaftskultur befördert, die auf dem Erfolg des Individuums aufbaut und mit Hilfe des Narrativs der sogenannten “Bestenauslese” nicht nur strukturelle Benachteiligung und Privilegien ausblendet, sondern auch Gemeinschaftsbildung und kollaboratives Arbeiten auf Augenhöhe sabotiert. Die eigene Abhängigkeit von Personen in Machtpositionen macht es zudem schwer, beobachtetes Silencing zu benennen und Diskriminierte offen zu unterstützen; oft aus Angst, selbst ausgegrenzt zu werden und dadurch der eigenen Karriere zu schaden, weil man vermeintlich negativ auffällt.
Gleichzeitig verfügen Menschen unterhalb der Professur, insbesondere jene, die selbst noch prekär beschäftigt sind, über weniger Ressourcen, die eine effektive Förderung anderer erlauben. Jenen wiederum, die über diese Mittel verfügen, liegt oft gar nicht daran, die Wissenschaft vielfältiger und diverser zu machen. Ihnen geht es um den eigenen Machterhalt. Hinzu kommt ihre eigene Prägung, um nicht zu sagen Gehirnwäsche, durch das System, das ihnen sagt, sie hätten sich ihre Position und Privilegien verdient. Dabei werden die eigenen Privilegien, die sie dorthin geführt haben, häufig ausgeblendet, um das Narrativ der Bestenauslese aufrechtzuerhalten. Entsprechend findet Förderung entlang der eigenen Erfahrungswelten statt. Auch werden mit Spitzenpositionen wie der Professur oder Projektleitung verbundene Management- und Führungsaufgaben (implizit) mit Herrschaft gleichgesetzt und dementsprechend missverstanden.
Wie lassen sich trotz dieser Voraussetzungen mehr Diversität und mehr Sichtbarkeit für bislang nicht oder zumindest weniger gehörte Stimmen erreichen? Wie kann ein Kulturwandel eingeleitet werden?
Es fängt bei unserer täglichen Arbeit als Historiker*innen an. Wessen Arbeiten lesen und rezipieren wir? Wen zitieren wir? Wem geben wir Raum in unseren eigenen Texten? Folgen wir dabei ausschließlich den dominierenden Netzwerken oder bemühen wir uns, abseits davon zu gucken und damit auch andere Stimmen in den wissenschaftlichen Diskurs einzubinden?
Gleiches gilt für Einladungen zu Tagungen, Vortragsreihen und Podiumsgesprächen. Wen fragen wir beispielsweise an, wenn wir eine Sektion für den Historikertag [sic!] einreichen? Sind es Menschen, die für die eigene Karriere nützlich erscheinen, sind es die (großen) etablierten Namen oder versuchen wir, jene zu integrieren, die noch nie oder selten auf einer solchen Bühne vorgetragen haben, die über weniger Möglichkeiten und Netzwerke verfügen? Und wessen Sektionen hören wir uns an? Die unserer Bekannten? Die der Großen? Oder räumen wir auch anderen Platz in unserem persönlichen Programm ein?
Eine niedrigschwellige Möglichkeit, Stimmen jenseits des eigenen Netzwerks kennenzulernen und sichtbar zu machen, ohne gleich das ganze System stürzen zu müssen, sind Call for Papers, die anders als in den Naturwissenschaften in der Geschichtswissenschaft noch immer nicht Standard sind. Warum sollten Tagungen und Publikationsprojekte zumeist aus dem bereits bekannten Umfeld und somit mit dem immer gleichen Personenkreis besetzt werden? Warum nicht einmal das überschaubare Risiko wagen, breit zur Teilnahme einzuladen, um dadurch weitere Stimmen und Perspektiven berücksichtigen zu können?
Die meisten wissenschaftlichen Tagungen sind auf eine externe Drittmittelfinanzierung angewiesen. Hier müssen daher auch die Drittmittelgeber umdenken, denn bislang wird für einen Antrag auf Tagungsförderung meist eine Liste mit den Namen der Referent*innen gefordert, was die Besetzung überwiegend über einen Call for Papers problematisch macht.
Auch an anderer Stelle wird gerade bei Konferenzen die Verbindung von Ressourcen und Sichtbarkeit besonders evident. Antragsberechtigt bei den großen Förderinstitutionen sind in der Regel Promovierte. Die Mittelgeber orientieren sich bei der Finanzierung an dieser Statusgruppe. So berücksichtig etwa die DFG nur promovierte Forscher*innen für die Berechnung von Förderbeiträgen für Konferenzen. Eine andere große Förderinstitution gab uns den wohlgemeinten Rat, die geplante Sektion für fortgeschrittene Studierende und Promovierende für die Antragsstellung aus dem Tagungsprogramm zu entfernen, um unsere Bewilligungschancen zu erhöhen. Durch eine derartige Förderpraxis wird die Unterstützung noch nicht etablierter Wissenschaftler*innen, des sogenannten Nachwuchses, zum Lippenbekenntnis. Maßgeblich sollte auch hier der Beitrag der vorgesehenen Wissenschaftler*innen zur Fachdiskussion sein, nicht die Position in der akademischen Hierarchie. - Vielleicht benötigen wir eine Art Bechdel-Test für die Geschichtswissenschaft, der die Diversität von Publikationen, Tagungen und Arbeitsteams abfragt.
Allerdings besteht gerade bei der Förderung weniger etablierter Wissenschaftler*innen die Gefahr, paternalistisch aufzutreten, und anstatt der Person, die gefördert werden soll, das eigene Fördern (und somit die eigene Macht) in den Vordergrund zu stellen. Fördern sollte auf Augenhöhe stattfinden. Handlungsleitend sollten dabei die Interessen des anderen sein, nicht der eigene Kapitalzuwachs. Dazu gehört auch, den Ideen und Vorstellungen des Gegenübers im Gespräch Raum zu geben, sie ernstzunehmen. Feedback nicht nur anzubieten und wertschätzend und konstruktiv zu gestalten, sondern den zu kommentierenden Text oder Vortrag in seinen Eigenheiten und Argumenten wahrzunehmen und zu respektieren, auch wenn er anders ist, als man selbst schreiben würde. Sich hierfür Zeit zu nehmen, ist auch eine Form der Unterstützung.
Eine weitere ist das Zuhören und Anerkennen, wenn andere von Diskriminierungs- und Silencing-Erfahrungen berichten, die wir selbst so nicht erlebt haben. Nur durch dieses Zuhören lässt sich der eigene Blick für Silencing-Mechanismen schärfen und nur, wenn wir sie erkennen, können wir ihnen entgegenwirken für eine Geschichtswissenschaft, die auf Miteinander und gegenseitiger Unterstützung aufgebaut ist. Doch Zuhören ist nicht genug. Neben Anerkennung des Erlebten benötigen Betroffene von Silencing Solidarität und Unterstützung. Sie benötigen unsere Stimmen. Wir müssen das Schweigen brechen, ob im eigenen Team, in der Institutssitzung, auf Fakultätsebene, Tagungen oder in der Geschichtswissenschaft als Ganzes. Silencing und andere Herrschaftstechniken müssen als solche (an)erkannt und benannt werden, um ihnen ihre Wirkmächtigkeit zu nehmen und geeignete Gegenstrategien zu entwickeln. Das erfordert neben Wissen um derartige Herrschaftstechniken auch Mut zur Kritik und zur Selbstreflektion. Der Umgang miteinander sollte daher ein festverankertes Thema an Universitäten, Forschungseinrichtungen und in Verbänden sein. Hilfestellungen bei diesen Prozessen (für Einzelpersonen und Gruppen) können neben Beratungsangeboten vor Ort auch technische Hilfsmittel wie zum Beispiel entsprechende Apps sein.
Es ist noch so viel zu tun. Diese Vision einer wertschätzenden, diversen und solidarischen Geschichtswissenschaft kann keine*r von uns alleine Wirklichkeit werden lassen. Es ist ein Kampf, den wir gemeinsam kämpfen müssen. Darum, Historiker*innen, hört die Signale! Lasst uns Verbündete suchen. Lasst uns Vorbilder sein, wie man andere unterstützen kann. Lasst uns gemeinsam, anderen eine Bühne geben, damit sie selbst laut werden und gehört werden können.