Ich habe in Freiburg und Durham (Großbritannien) Geschichte und Englisch studiert. Von 2015-2017 habe ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem DFG-Projekt an der Uni Kiel gearbeitet und mein Promotionsvorhaben begonnen. Seit 2018 arbeite ich bei der Körber-Stiftung im Bereich Geschichte und Politik, seit 2021 als Programmleiterin für das Projekt eCommemoration. 2021 habe ich meine Promotion in Mittelaltergeschichte abgeschlossen und bereite derzeit die Veröffentlichung meiner Doktorarbeit vor.
Über den Tellerrand der Geschichtswissenschaft hinaus
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Fiona Fritz
Ich wünsche mir eine weitergehende Öffnung der Geschichtswissenschaft, sowohl zu anderen Wissenschaftsbereichen als auch zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit hin, deren Mitglieder und Institutionen einerseits die Expertise von Historiker*innen nutzen können und andererseits selbst zur historischen Reflexion fähig sein sollten. Ich denke z.B. an Formen von „Citizen science“ und insbesondere an die Digitalisierung als großes gesellschaftliches Problem/Projekt, an dem auch Historiker*innen teilhaben (sollten), z.B. in Projekten wie einer digitalen Erinnerungskultur („eCommemoration“).
Ich wünsche mir also eine Geschichtswissenschaft, in der es ganz normal ist, interdisziplinär zu arbeiten und zu lernen. Es gilt daher über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaus zu schauen und diese Interdisziplinarität explizit zu reflektieren: Was macht unsere unterschiedlichen Herangehensweisen aus? Wie können wir uns in unserer Expertise ergänzen? Wie können wir andere Perspektiven für unser eigenes Denken und Arbeiten fruchtbar machen? Welche Erkenntnisse, aber auch welche Hindernisse entstehen durch die Anwendung unterschiedlicher Methoden?
Zweifellos gehört das heute schon zur Praxis vieler Historiker*innen, aber häufig sind noch institutionelle Schranken an den Universitäten, in der Gesellschaft, aber auch in den Köpfen wirksam. Diese Schranken fallen in meiner Utopie weg.
An der Universität
In meiner Utopie lernen Studierende während des Studiums nicht nur Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, sondern sie besuchen auch interdisziplinäre Seminare aus Geschichtswissenschaft und Fachdidaktik, Archäologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Sprach- oder Literaturwissenschaft uvm. Sie beschäftigen sich mit Blogs, Podcasts, Games, Social Media, Filmen und anderen Darstellungsformen von Geschichte.
Das wissenschaftliche Arbeiten ist von interdisziplinären Teams geprägt, die verwandte Themen bearbeiten. Der Austausch wird von allen Disziplinen gefördert und gefordert. So profitieren wir alle von der Expertise der benachbarten Disziplinen. Dabei kann ein Ergebnis dieser Kooperation auch darin bestehen, dass Methoden oder Herangehensweisen eines anderen Fachs für die eigene Forschung im Einzelfall nicht geeignet sind. Aber Raum für Irrwege und Sackgassen ist verfügbar.
Die Arbeit an interdisziplinären Schnittstellen wird gefördert: (Dauer-)Stellen und Forschungsprojekte schaffen Räume und Zeit für diesen Austausch. Stiftungen, Museen, Gedenkstätten schaffen Gelegenheiten, bei denen Austausch stattfindet und moderiert wird. Drittmittelstrukturen fördern interdisziplinäre Teams und planen hierfür ausreichend Zeit ein.
In der Gesellschaft
Geschichte findet nicht nur in der Wissenschaft statt, sondern auch in der Gesellschaft. Das ist dann vielleicht keine Geschichtswissenschaft, aber wir Historiker*innen beteiligen uns an geschichtswissenschaftlich relevanten gesellschaftlichen Diskussionen, unsere Expertise wird ernst genommen und von Politik und Gesellschaft eingeholt. Wir beteiligen uns an Diskussionen um die Aufarbeitung von Geschichte, diskutieren mit Aktivist*innen über kreativen, zeitgemäßen, aber auch zukunftsgewandten Umgang mit Denkmälern, hinterfragen außenpolitisches Handeln, das die Genese von Konflikten und kulturellen Begebenheiten außer Acht lässt, wir lassen problematische Geschichtsdarstellungen nicht unkommentiert.
Historiker*innen sind im engen Austausch mit all jenen Orten und Menschen, die mit Geschichte arbeiten: Museen und Gedenkstätten, Autor*innen von historischen Romanen und Filmen, Künstler*innen und digitale Kreativen auf Social Media, Video Games und Künstler*innen, in Schulen und politischen Gremien.
Wir Historiker*innen lernen, wie neue Technologien den Blick auf Geschichte verändern und wie wir disziplinübergreifend kreative Räume für eine inklusivere, vielfältigere und offene Geschichtswissenschaft und Erinnerungspraxis schaffen können. So werden Geschichtsdarstellungen, die das Geschichtsbild von uns allen prägen, immer weniger von Stereotypen gezeichnet und zeigen die Komplexität, die Gesellschaften damals wie heute auszeichnen (das ist aber ein Thema für eine andere Utopie). Wir beteiligen uns an einer lebendigen und zeitgemäßen Erinnerungspraxis, die bei Gedenkveranstaltungen anfängt, aber bei Kunst, Games oder Social Media noch lange nicht aufhört.
Die Schnittstellen
Dabei spielen die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit eine besondere Rolle: Wissenschaftskommunikation auf Social Media, in Podcasts oder Podiumsdiskussionen wird in der Gesellschaft und der Fachcommunity aufgenommen und konstruktiv diskutiert. In Kunst, Kultur, Politik und Gesellschaft wird die Expertise von Historiker*innen wahr- und ernstgenommen. Neue Formen des Umgangs mit Geschichte wie etwa Games werden erprobt und erforscht.
Die Schnittstellenarbeit wird von allen Beteiligten ernst genommen.
Utopie in Sichtweite
Für diese Bausteine gibt es schon sehr schöne Beispiele und Best Practices und ich hatte das Glück in allen Phasen meines Historikerin-Werdens und -Seins davon zu profitieren: interdisziplinäre Seminare mit Fachdidaktik oder Archäologie bei meinem späteren Doktorvater haben deutlich gemacht, welche Kreativität es freisetzen kann, wenn man ein Thema aus mehreren Perspektiven betrachtet. Während meiner Promotionsphase haben mir sprach- und literaturwissenschaftliche Methoden und der Austausch mit Expert*innen aus anderen Disziplinen die Augen für neue Sichtweisen geöffnet. In Sonderforschungsbereichen aber auch im internationalen (v.a. angelsächsischen und skandinavischen) Raum ist der interdisziplinäre Austausch viel normaler als in der universitären Alltagspraxis in Deutschland. Und in meiner Arbeit bei der Körber-Stiftung ging und geht es immer darum, kreative Formate zu entwickeln und gestalten, um Menschen aus den unterschiedlichsten Richtungen zusammen zu bringen, um über Geschichte zu diskutieren und wie diese unsere Gegenwart prägt (an dieser Stelle etwas Werbung für einige Angebote der Körber-Stiftung für alle Altersgruppen: Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten für Schüler*innen, eCommemoration für die Digitalaffinen und der History & Politics Podcast für alle Interessierten).
Die Beiträge in dieser #VisionGeschichte-Reihe zeigen die Richtungen, in die es gehen kann und die Kreativität unserer Zunft. Mit Thorsten Logges “Zentrum für Public Humanities (ZPH)” oder Marie Hubers “Institut der Zukunft” gibt es schon (fast) fertige Blueprints, wie der institutionalisierte Austausch aussehen kann. Was es jetzt braucht, ist Mut, Zeit und Geld, um diese Ideen Realität werden zu lassen. Eine interdisziplinäre Kollaboration aus Ministerien, Wirtschaft, Stiftungen und Gesellschaft könnte mit diesen Ideen direkt loslegen.