Ich bin gegenwärtig Koordinatorin einer Forschungsgruppe und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU München. Mit dieser „job description“ gehöre ich zu einer Beschäftigungskategorie (von mehrheitlich Frauen), die versucht, eine Tätigkeit im Wissenschaftsmanagement mit Forschungsarbeit und (oft auch) Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen.
Nowtopia: Sieben Reformvorschläge für bessere Arbeitsbedingungen in der Geschichtswissenschaft jetzt
Utopia: Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Olga Sparschuh
Was sind die zentralen Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft? Oder: Wo steht die Geschichtswissenschaft deshalb gegenwärtig?
Während es schwierig ist, die Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft an sich zu benennen, kommen die Schwierigkeiten der deutschen Geschichtswissenschaftler*innen in der PostDoc-Phase am Rande von Zoom-Calls und bei Konferenz-Essen regelmäßig auf den Tisch: Der Alltag von Historiker*innen so unterschiedlicher Bereiche wie der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte ebenso wie der Technik- und Wissenschaftsgeschichte ist geprägt durch kurze Vertragslaufzeiten bei meist hohem Lehrdeputat, dem endemischen Pendeln und der dadurch besonders schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hinzu kommen die ewig unklaren Zukunftsaussichten. Wie soll man sich da auf „die Sache“ konzentrieren? Denn während das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, wie es im Hanna-Video so anschaulich erklärt ist, darauf zielte, dass „nicht eine Generation alle Stellen verstopft“, passt es mit seiner von Projekten und Ergebnissen, aber nicht vom Menschen her gedachten Logik kaum zu den Lebensentwürfen Tausender PostDocs in Deutschland.[1]
Wie sieht die beste aller Zukünfte der Geschichtswissenschaft aus?
Kreativität braucht Zeit, Geld und Diversität. Ich wünsche mehr Menschen in der deutschen Geschichtswissenschaft, reichliche Gelegenheiten für lange Archiv- und Bibliothekstage, mit ausreichend Muße, auf den Bildschirm oder in die Luft zu starren. Denn nur mit dieser Freiheit wird „richtige“ historische Arbeit möglich, die es erlaubt, wirklich in die Breite zu lesen, abseitige Archivbestände einzusehen, Perspektiven zu verschieben, Sackgassen zu riskieren und Themen zu entwickeln, die jenseits von Antragslogiken funktionieren und als Bücher eine längere Halbwertszeit haben als die anderer Disziplinen.
Was würdest Du gerne in einer optimalen Geschichtswissenschaft auf die Beine stellen?
Um dieses Ziel zu erreichen, waren mir die echten „Utopien“ aus dem Titel Eures Fragebogens fast eine Nummer zu groß. Im Sinne der in den letzten Jahren viel diskutierten Konzepte von Nowtopia als „small, under-the-radar ways [...] making life better right now“[2] oder einer Utopia for Realists als „pragmatisches Manifest“ schlage ich stattdessen sieben Reformen (oder Reförmchen) vor.[3] Von der kleinsten bis zur größten Maßnahme sind sie mit etwas politischem Willen leicht umsetzbar und zielen darauf, Wendepunkte oder Problemphasen der PostDoc-Qualifizierung leichter zu bewältigen. Denn es ist höchste Zeit, die Strukturen der deutschen Geschichtswissenschaft stärker den Bedürfnissen der Forscher*innen anzupassen, damit sie (weiter) innovative Arbeit leisten können.
- E-Mail-Adresse und Speicherplatz für Historiker*innen
Alle, die in ihrer Karriere mit kurzfristigen Verträgen konfrontiert waren, kennen das Problem der erlöschenden E-Mail-Adresse und des Im-/und Exports von Forschungs- und Adressdaten am Ende von Projektlaufzeiten. Erhielte man nach der erfolgreichen Disputation zusammen mit der Promotionsurkunde und/oder anlässlich des Beitritts zum Verband der Historiker*innen Deutschlands eine offizielle VHD-E-Mail-Adresse und ein Speicherkontingent auf einer Historiker*innen-Cloud, ließe sich diese Diskontinuität zumindest etwas auffangen – und durch die Rückendeckung der Institution wären auch Bewerbungen von privaten E-Mail-Adressen unnötig.
- Punktesystem nach Projektnähe
Je nach Finanzierungsart herrschen an deutschen Universitäten unterschiedliche Bedingungen für Doktorand*innen und PostDocs. Während alle, die auf Planstellen an Lehrstühlen beschäftigt sind, Lehrveranstaltungen und andere Tätigkeiten übernehmen sowie in die wissenschaftliche Selbstverwaltung eingebunden sind, haben solche mit Drittmittelstellen meist mehr Zeit und Mittel für Archivaufenthalte und Konferenzbesuche. Trotz dieser kaum vergleichbaren Arbeitssituationen in den Qualifikationsphasen zählt die Sechs-Jahresfrist für beide Gruppen in derselben Weise. Warum? Günstig wäre hier die Einführung eines Punktesystems, dass die Deckungsgleichheit der Tätigkeiten mit der für die Qualifikation verfolgten Projektarbeit bestimmt. Grob eingestuft nach 25, 50, 75 oder 100 Prozent der Kongruenz ließe sich die Laufzeit der Beschäftigungsmöglichkeiten entsprechend anpassen – und ein gerechteres System schaffen.
- Publikationsstipendium
Am Ende eines Stipendiums ist die Zeit oft knapp, am dramatischsten ist das nach dem Abschluss der Dissertation. Die Notwendigkeit, schnell das nächste Projekt an Land zu ziehen und einen Lebensunterhalt zu verdienen, bedeutet die Mitnahme des häufig nicht gerade leichten Gepäcks eines umfänglichen Dissertationsmanuskripts. Nach den Vorschlägen der Gutachter*innen muss es überarbeitet und für den Druck vorbereitet werden, meist neben der neuen Tätigkeit in einem großen Kraftakt, der am Wochenende und in den Abendstunden erbracht wird. Wie viele – und vor allem: um wieviel bessere – Bücher könnten in Deutschland durch die Einrichtung eines halbjährigen Publikationsstipendiums entstehen? Möglicherweise sehen hier die VG Wort, die Deutsche Nationalbibliothek oder einschlägige Stiftungen und Verlage einen neuen Förderbereich?
- Sabbaticals für PostDocs
Was wäre, wenn die Forschungsfreizeiten im Karriereverlauf gleichmäßiger verteilt wären? Nach Jahren des rastlosen Strebens während der PostDoc-Phase, in denen oft das Leben hintangestellt wird, mildern (fast) alle, die endlich eine Professur erhalten haben, die Verpflichtungen ihrer neuen Forschungsmanager*innen-Tätigkeit durch Freisemester, sobald das möglich ist. Regelmäßig zieht das für die Sicherstellung der Lehre und der Arbeit an den Instituten organisatorische Schwierigkeiten nach sich. Wie viel produktiver wäre es dagegen, wenn bereits jede/r PostDoc bei Antritt ihrer/seiner Projektlaufzeit zusätzlich zur WissZeitVG-Frist von sechs Jahren ein Konto mit einer zwölfmonatigen Forschungsfreizeit erhielte? Diese institutionalisierte Atempause könnte der/die PostDoc nach Bedarf einlösen, gestückelt oder en bloc, für ausführliche Archivrecherchen, bei Überbrückungsphasen zwischen Stellen und Förderungsperioden – und mit der Möglichkeit einer monetären Auszahlung am Ende des erfolgreichen Abschlusses der Habilitation, sollte diese Begünstigung doch nicht gebraucht werden.
- Bedarfsgerechte Förderung für Familien
Klar gibt es in Deutschland Elterngeld für das erste Jahr, aber: Kinder benötigen lange darüber hinaus kontinuierlich Betreuung. Die kostet bis heute vor allem Mütter Zeit, die dabei vor der Wahl stehen zwischen einer Vollzeitstelle, die auf Kosten des Familienlebens geht und einer Halbzeitstelle, die (möglicherweise) ins Karriereaus führt. In jedem Fall schlägt sich die Care-Arbeit in verpassten Colloquiumsbesuchen, unbeantworteten CfPs und nichtgeschriebenen Artikeln nieder – mit allen Konsequenzen, die daraus durch die entsprechend verkürzte Publikationsliste für die nächste Bewerbung erwachsen. Auch wenn deutsche Institutionen und Universitäten längst Maßnahmen zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit eingerichtet haben, gehen diese häufig an den Bedürfnissen der Familien vorbei. Etwa, wenn die Abrechnungsrichtlinien vorsehen, dass Kinderbetreuung durch (unbekannte) Babysitter*innen über Online-Plattformen gebucht werden muss oder wenn sie in eigens eingerichteten Kinderzimmern in bestimmten Fakultäten zu restriktiven Zeiten stattfindet. Wie viel mehr könnte dagegen ein Kinderbetreuungsgeld ausrichten, einzusetzen nach den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Familien! Das ließe sich nicht nur für die Beschäftigung des eigenen Babysitters aufwenden, sondern auch, um Zugtickets für die Großeltern zu bezahlen, die zur Kinderbetreuung durch die Republik reisen. Denn während derzeit keine deutsche Universität derlei Kosten übernimmt, ist die Zahl der Omas und Opas enorm, die in Deutschland diese übergenerationelle Care-Arbeit leistet und dafür aus eigener Tasche bezahlt.
- Selbstverpflichtung zur Nicht-Ausschreibung von Einjahresverträgen
Wer kennt nicht die E-Mails von Kolleg*innen, die ad hoc die Stadt und die Themen wechseln und darüber (oft) die eigenen Forschungsinteressen auf Eis legen. Erschwert wird die neue Arbeit durch das allgegenwärtige Pendeln, denn die temporären Jobs lassen den Umzug (vor allem all jener mit Familie) als Dystopie erscheinen. Doch wenn es darum geht, kurzfristig den Lebensunterhalt zu sichern, geraten die langfristigen Forschungsziele aus dem Blick. Niemand mit einer Ausbildungszeit und Berufserfahrung von mehr als 15 Jahren sollte sich als PostDoc um auf ein Jahr befristete Stellen bewerben müssen, in der Hoffnung danach materialisiere sich eine Drittmittelförderung – und damit Zeit zum Forschen. Angesichts dieser hochprekären Lebenslagen scheint es schwer nachvollziehbar, dass in Deutschland im 21. Jahrhundert eine substanzielle Gruppe von Menschen, oft mit familiären Verpflichtungen, von den Errungenschaften des geltenden Arbeitsrechts ausgeschlossen ist. Wäre es daher nicht an der Zeit für eine Selbstverpflichtung der deutschen Universitäten die Ausschreibung dieser Art von Stellen aus Gründen der Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitenden zu unterlassen? Vielleicht könnte ein griffiges Gütesiegel für „Fair Working Conditions“ oder „Guter Arbeitgeber“ hier zum Wettbewerb um eine andere Art von Exzellenz beitragen?
- Durch mehr Sicherheiten zur Geschichtswissenschaft als Beruf
Für viele, scheint es, ist die Beschäftigung als PostDoc in der deutschen Geschichtswissenschaft zum Lebensstil geworden. Zwischen Pendelbeschäftigungen, Fernbeziehungen und (oft vertagten) Familiengründungen, Schreibschulden und Wochenend- bzw. Feiertagsarbeit, halten sie beim Verfassen von Anträgen, Bewerbungen oder Berichten und in der Sorge vor dem Ende der nächsten Projektlaufzeit an der Hoffnung fest, die sichere Position an einer Universität werde sich nach den Jahren der Mühen erst mit dem ersten, dann dem zweiten Buch doch noch realisieren. Wie viel produktiver wäre es, wenn mit diesen Maßnahmen die Arbeit von PostDocs an deutschen Universitäten wieder zu einer normaleren Berufstätigkeit werden würde! Denn selbst kleine Verbesserungen zur Erhöhung der Sicherheit in einer dynamisierten Wissenschaftslandschaft würden schon mehr genuine Forschungszeit ermöglichen, statt die Situation vieler dauerhaft zu prekarisieren.
Denn – und das ist ein anderes Problem – gegenwärtig wirkt die Prekarität der Beschäftigungssituation gegen die Diversität der Zunft. Angesichts der schwierigen Bedingungen und der unsicheren Perspektiven stellt sich die Frage, was es langfristig mit der ohnehin nach wie vor wenig vielfältigen deutschen Geschichtswissenschaft macht, wenn irgendwann nur noch die, die es sich finanziell leisten können, im Fach bleiben, sei es, weil sie von Hause aus einen gesicherten materiellen Hintergrund haben oder eine/n Partner*in, deren feste Position jenseits von Academia ihnen das ermöglicht. Wenn die anderen, für die die knappen Stellen nicht ausreichen, in Brotberufe abwandern, steht das dem Ziel einer multiperspektivischen deutschen Geschichtswissenschaft diametral entgegen. Und was heißt das eigentlich für die Freiheit der Wissenschaft?
Mit den genannten Eingriffen, scheint mir, könnte man nicht nur die Lebensqualität vieler Menschen in Deutschland erhöhen. Auch käme es auf den Versuch an zu sehen, wie die durch die Maßnahmen gesteigerte Sicherheit für Universitätsangestellte die Qualität (und nicht nur die Quantität) ihres Outputs verbessert.
Am Ende aber bleibt trotzdem die Frage, ob man mit diesen Reparaturen nicht ein System stützt, dass grundüberholt werden müsste, um die Bundesrepublik als Ort innovativer Forschung in der Geschichtswissenschaft zu erhalten und gleichzeitig zu vermeiden, dass viele kluge Köpfe in wirtschaftlich einträglichere und vor allem planungssichere Berufe außerhalb der Wissenschaft oder sogar Deutschlands abwandern.