Nach nun mehr als 25 Beiträgen, die im Laufe des Jahres 2023 in dem Dossier „Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft“[1] unter dem Hashtag „#VisionGeschichte“ erschienen sind, wollen wir als Herausgeberin und als Herausgeber eine knappe Bilanz ziehen und ein paar Aspekte hervorheben, die uns wichtig sind für die Zukunft der Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert. Wir bedanken uns bei allen Beitragenden, die ihre Gedanken in diesen Blogbeiträgen zur Diskussion gestellt haben. Die folgenden Gedanken sind maßgeblich auch von diesen Beiträgen inspiriert.[2]
Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert. Oder: #VisionGeschichte – Ein Wunschzettel
von Sebastian Kubon und Kathrin Meißner
Da dieser Artikel kurz vor Weihnachten des Jahres 2023 geschrieben wurde, haben wir das Format eines Wunschzettels mit zwölf Wünschen gewählt, ohne dass wir damit aber einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnten. Maßgeblich ist auch für diesen Wunschzettel, dass weniger Monita, sondern vielmehr Visionen, Wünschenswertes eben, in den Mittelpunkt gestellt werden sollen, wiewohl diese natürlich häufiger von den krisenhaften Aspekten des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs ihren gedanklichen Ausgangspunkt nehmen. Dabei sollen an dieser Stelle vor allem Punkte, die spezifisch für die Geschichtswissenschaft sind, hervorgehoben werden und weniger solche, die für die gesamte deutsche Wissenschaft gelten.
Denn nicht zuletzt angesichts des gegenwärtig laufenden Novellierungsprozesses des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ist für uns selbstverständlich, dass eine Abkehr von den prekären Arbeitsbedingungen, die insbesondere unter den Hashtags #95vsWissZeitVG[3] und #IchBinHanna[4] diskutiert werden, genommen werden muss, damit Wissenschaft eine Chance hat, attraktiv zu bleiben bzw. überhaupt wieder zu werden.
Es ist daher klar, dass wir in allen Bereichen der Wissenschaft und nicht nur spezifisch in der Geschichtswissenschaft eine rigorose Eindämmung des Machtmissbrauchs[5] und ein Mehr an demokratischer und paritätischer Teilhabe aller Statusgruppen brauchen.[6] Department-Modelle, eine umfassende Modernisierung der Personalstrukturen[7], in der zukunftsträchtige Stellen neben der Professur geschaffen werden, Familienfreundlichkeit und Diversität müssen auch überhaupt erst ermöglicht werden.[8]
Nicht zuletzt muss das Verhältnis wieder von den Drittmitteln zu auskömmlichen und langfristig verplanbaren Grundmitteln verschoben werden.[9] Die vorherrschende kurzfristige Projektbefristung nützt der Wissenschaft nicht. Es ist wenig hilfreich, dass eigentlich kaum noch etwas erforscht werden kann, das den üblichen maximalen Projektzeitraum von drei Jahren überschreitet.
Die Forschenden brauchen mehr Zeit und mehr Freiheit– zum Nachdenken, Schreiben, Diskutieren.[10] Diese Forderung war der basso continuo der meisten Beiträge. Das geht aber am geschichtswissenschaftlichen Fließband der Projektbefristung kaum.
Wunschzettel für die Geschichtswissenschaft:
- Promotion: In den Geisteswissenschaften dauert die Promotion durchschnittlich 5,7 Jahre.[11] Das ist eindeutig zu lange. Im besten Fall sollte die Dissertation ein Buch unter vielen sein, aber auf keinen Fall ein Lebenswerk. Auskömmliche Vertragslaufzeiten und entsprechende Ausgestaltung der Verträge sollten dafür sorgen, dass eine Dissertation innerhalb von 3 Jahren geschrieben werden kann. Nur dann wäre ein solches Projekt auch ein Bonus für eine Karriere außerhalb der Wissenschaft. Man könnte sich aber auch ein sechsjähriges Qualifizierungsmodell vorstellen, in dem neben der Dissertation auch Lehre, Wissenschaftskommunikation und Führung systematisch vermittelt und ausgeübt werden. Diese Aufgaben wären dann Teil der Ausbildung und nicht nur ‚Rucksackaufgaben‘, die nebenbei autodidaktisch erlernt werden sollen. Es bliebe offen zu diskutieren, ob eine solch umfassendes „Wissenschaftliches Referendariat“ nicht für inner- und außerwissenschaftliche Karrieren sinnvoll wäre. Grundsätzlich darf nicht aus dem Blick fallen, dass für die meisten Promovierenden mehr auf dem Spiel steht, als ‚nur‘ einen Doktortitel zu erlangen. Diese Lebensphase bedeutet eine immense und langjährige mentale, soziale wie materielle-finanzielle Herausforderung/Belastung für die Persönlichkeiten/Menschen dahinter und sollte entsprechend fachlich wie finanziell begleitet und geplant werden.
- Habilitation: Eine Habilitation ist hingegen nur innerhalb der Wissenschaft von Bedeutung und für alles andere schädlich – insbesondere wenn es nur eine zweite Monographie ist. Eine solche Leistung sollte daher, wenn sie weiterhin gefordert wird, ausschließlich auf ‚festen‘, d.h. entfristeten oder zumindest mit Anschlusszusage auf Entfristung vereinbarten Stellen, stattfinden. Wenn aber weiterhin eine zweite Qualifikation in der Geschichtswissenschaft gefordert ist, da unter den gegenwärtigen Bedingungen der Beschäftigtenstruktur nur die Professur als ‚feste Stelle‘ vorkommt, dann sollte hier ein Portfolio an die Stelle einer weiteren Monographie treten, in dem Historiographien in verschiedenen anderen medialen Formen, in denen Geschichte gegenwärtig distribuiert wird, geschaffen werden. Es sei gedacht an YouTube-Kanäle, Podcasts oder Social Media History, sodass sowohl in Praxis als auch in theoretischer Reflexion – als ‚Doing History‘[12] – über solche üblicherweise von Nichthistoriker*innen geschaffenen Historiographien ein neues Feld der geschichtswissenschaftlichen Zukunft erschlossen wird.[13]
- Digitalisierung: Geschichte findet schließlich auch und zuletzt vermehrt in der digitalen Welt statt: Es sollte nicht so sein, dass das Digitale ausschließlich in Professuren für Digital History ausgelagert wird. Digitalisierung ist ein Querschnittsthema und sollte daher auch von allen Professuren behandelt werden können. Rufe auf Professuren ohne Forschungs- oder Lehrkompetenzen hinsichtlich digitaler Aspekte der Geschichtswissenschaft sollten der Vergangenheit angehören. Dazu gehört vor allem das Zukunftsfeld KI, das auch in der Geschichtswissenschaft das Thema der nächsten Jahre sein wird. Es wäre wünschenswert, wenn Historiker*innen an dieser Diskussion maßgeblich beteiligt und nicht nur Zaungäste wären.[14]
- Public History: Auch muss Public History eine größere Rolle in der Geschichtswissenschaft spielen. Der Status dieses Faches ist in Deutschland allerdings weiterhin prekär. Hier ist eine Ausweitung in Form von Professuren und Mitarbeiter*innen notwendig und nicht nur eine Einstufung als ‚Rucksackaufgabe‘ für die Geschichtsdidaktik, wie es nicht selten vorkommt.[15] Es bedarf einer kontinuierlichen Auseinandersetzung über die Gestaltung guter Angebote von Public History und eine dementsprechende Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen, die in Form sowohl von Analyse als auch von Produktion von Geschichte im öffentlichen Raum vorkommen. So könnten auch die gegenwärtig immer stärker umkämpften Räume gesellschaftlicher Öffentlichen zurückerobert werden, die von populistischen und revisionistischen Diskursen um vermeintliche Wissenschafts- und Meinungsfreiheit eingenommen werden.[16]
- Epochenübergreifende Arbeit: Immerhin ist die Epochengrenze zwischen Spätantike und Frühem Mittelalter durchlässig geworden ebenso wie zwischen Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Wenn aber ohnehin zwei epochale Zeiträume bearbeitet werden müssen für eine Professur, dann wäre es eigentlich bedenkenswert, dass auch andere Zeiträume aus verschiedenen Epochen in Qualifizierungsportfolios kombiniert werden könnten. Doch nicht nur hier, sondern vor allem auch in der Lehre und der Forschung sollten vermehrt thematisch gebundene Felder epochenübergreifend bearbeitet werden. Die etablierte Stellenstruktur sollte nicht den Zuschnitt der Forschung bestimmen.
- Eurozentrismus: Der Fokus auf Deutschland bzw. bestenfalls Westeuropa sollte aufgebrochen werden. Auch andere Kontinente, die entgegen aller politischen und zukünftigen Bedeutung gegenwärtig nur eine Nebenrolle spielen, müssen in den Fokus gelangen. Es müssen wieder Freiräume für den Spracherwerb geschaffen werden.[17]
- Fachkultur: Die Fachkultur muss sich (weiter) diversifizieren, indem wissenschaftliche Karrieren kein ‚Privileg‘ mehr darstellen, sondern bewusst/gezielt Perspektiven bspw. von internationalen, migrantischen und Erst-Akademiker:innen einfordern und inkludieren.[18] So dringend benötigte sozialkritische Perspektiven können von postkolonialen, (post-)migrantischen und queeren, aber auch interdisziplinären Ansätzen und Geschichten profitieren,[19]die mit einer diversen Fachkultur wahrscheinlicher werden.
- Zusammenarbeit: Alle diese Felder lassen sich am besten in kollaborativer Zusammenarbeit erarbeiten und nicht als Einzelkämpfer*in: Daher sollten Co-Teaching und kollaboratives Forschen gefördert werden und mit mehr Zeitressourcen ausgestattet werden.[20] Denn nur so lassen sich die vielseitigen Anforderungen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten sinnvoll aufteilen, um auch die vielfältigen individuellen Lebensentwürfe mit einer fundierten, langfristigen wissenschaftlichen Tätigkeit vereinbaren zu können.[21] Unter dauerhaftem Druck findet keine gute Wissenschaft statt und darüber hinaus enden wissenschaftliche und menschliche Biografien in Frustration, Burnout und erzwungenem Karriereausstieg.
- Forschung: Weniger, aber besser! Das sollte hier die Devise sein, wenn auf Qualität statt Quantität gesetzt wird. Dazu gehört auch, die ubiquitäre Projektförmigkeit von Forschung zu überdenken, dass alles in 3 DFG-Jahren abgeschlossen werden muss. So wird dann sicherlich auch wieder disruptive Forschung ermöglicht, an der es gegenwärtig mangelt.[22]
- Veröffentlichungskultur: Es sollte dabei gleichzeitig mehr und gleichzeitig weniger veröffentlicht werden. Wir brauchen weniger abgeschlossene Ergebnisse in Artikelform, die niemand zitiert, und mehr Dokumentation von Forschung in ihrer Entstehung auf Blogs (o.ä.), um so eine Diskussion VOR dem Abschluss zu ermöglichen. Voraussetzung ist eine möglichst breite öffentliche Zugänglichkeit von Ergebnissen und Forschungsständen.
- Lehre: In einer Wissenschaftswelt, in der nur die Forschung für die Karriere (d.h. Festanstellung) zählt, wird die Lehre vernachlässigt. Hier helfen auch keine Lehrpreise! Hier muss es verpflichtende Fortbildungen geben und überhaupt mehr Anerkennung für diesen zentralen Bereich von Hochschulbildung.
- Wissenschaftskommunikation:[23] Diese sollte einen höheren Stellenwert erhalten und kein Makel mehr sein, wie es das zuweilen in manchen Berufungskommissionen immer noch ist. Wissenschaft wird mit Steuergeldern für die Gesellschaft betrieben, da muss es dazugehören, diese Ergebnisse auch angemessen vermitteln zu wollen.
Würde man diese Wünsche berücksichtigen, dann stünde die Chance gut, dass die Geschichtswissenschaft zu einer Experimentalwissenschaft in Forschung, Lehre, Wissenschaftskommunikation und Bildung werden könnte, in der neue Arbeitsweisen ausprobiert und etabliert werden können.[24] Und die Geschichtswissenschaft hätte auch wieder die Kapazitäten, eine allgemein gesellschaftliche Prozesse kritisierende Interventionswissenschaft zu werden, vielleicht gar eine Leitwissenschaft, wie sie es früher einmal war, aber schon lange nicht mehr ist. So würde wieder mehr in die Gesellschaft hineinwirken[25] und auch gesellschaftliche Einwirkungen ihrerseits aufnehmen können oder gar Citizen Science betreiben können.[26] Das alles geht im täglichen Kampf um das eigene berufliche Überleben unter. Wird nicht umgesteuert, dann nähert sich die Gefahr weiter, dass die Geschichtswissenschaft in nicht allzu ferner Zukunft als Orchideenwissenschaft gelten wird, die zur Disposition gestellt werden kann, sobald die Finanzlage enger wird.
Würde die eher konservative Geschichtswissenschaft hier ansetzen, dann dürfte auch die dieser Tage diskutierte Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaften[27] im Allgemeinen entgegengearbeitet werden können. In einer Zeit der multiplen Krisen ist eine diverse, breit aufgestellte und experimentierfreudige Geschichtswissenschaft notweniger denn je.[28] Vorschläge liegen hiermit auf dem Tisch, um die Geschichtswissenschaft für das 21. Jahrhundert genauso breit wie tief aufzustellen. Sie müsste sich nur selbst auch auf Veränderungen einlassen und diese aktiv gestalten wollen.