Heiko Stoff, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Der Lebenslauf hat sich so ergeben.
Heiko Stoff, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Der Lebenslauf hat sich so ergeben.
1958 schrieb der Philosoph Karl Jaspers einen Schlüsseltext zur „Krise der Medizin“, betitelt Der Arzt im technischen Zeitalter, der mit einem Loblied auf das „Wunder der modernen Medizin“ einsetzt. Nach mehreren begeisterten Absätzen zum erfreulichen Stand von Naturwissenschaft und Technik änderte Jaspers plötzlich den Ton: „Alles scheint in bester Ordnung. (…). Aber erstaunlich: Es wächst eine Unzufriedenheit (…). Seit Jahrzehnten ist zugleich mit dem Fortschritt die Rede von Krise (…), von Reformen, von Überwindung (…) und Neugründungen“.[1]
Alles scheint in bester Ordnung – das scheint doch auch für die heutige Geschichtswissenschaft zu gelten! Ständig erscheinen großartige Fachartikel und Monografien; auf den Tagungen wird immer noch produktiv gestritten und ich freue mich weiterhin über die Begeisterung und Ernsthaftigkeit, mit der über die eigenen Forschungsthemen gesprochen wird. Geschichtswissenschaftliche Expertise ist in Fernsehen, Radio, Feuilleton, Podcasts und auch in den sozialen Medien nachgefragt. Das Interesse an Geschichte ist ungebrochen und wer Geschichte schreibt, geht einer gesellschaftlich bedeutsamen Tätigkeit nach. Aber erstaunlich: Es wächst eine Unzufriedenheit.
Nun ist auch eine „Krise der Geschichtswissenschaft“, nicht anders als die von Jaspers rekapitulierte „Krise der Medizin“, ein Dauerthema der disziplinären Selbstschau. Beim raschen Googeln habe ich den Ausdruck zuerst in einem Text von Wolfgang A. Mommsen aus dem Jahr 1930 gefunden. Er lässt sich aber direkt oder indirekt kontinuierlich bis in die heutige Zeit nachweisen. Es wäre sicherlich interessant und hilfreich, genauer herauszuarbeiten, was dabei jeweils als krisenhaft verstanden wurde und wird. Der Historiker (männliche Form) war im deutschsprachigen Raum mindestens bis zur Jahrtausendwende mit hohem sozialem Kapital ausgestattet und oft sehr nah am politischen Pol situiert. Diejenigen, die aufmerksam das Feuilleton lesen, können bestätigen, dass dies teilweise auch heute noch gilt. Der in den 1970er Jahren gegen eine zumeist konservative Politikgeschichte errungene hegemoniale Anspruch der Gesellschaftsgeschichte, der durchaus auch mit einem spezifischen Habitus à la Bielefeld verbunden war, stabilisierte und institutionalisierte sich mit verbissen geführten Abwehrkämpfen etwa gegen die kulturelle Wende in den 1980er Jahren. Dass es dabei auch um Machtpolitik im universitären Feld ging, ist keine besonders überraschende Aussage. Im Spannungsfeld zwischen Politik- und Gesellschaftsgeschichte setzte sich auch ein rauer Ton der Demarkationen durch, der, wenn auch nicht immer explizit, zur Selektion der Besten stilisiert wurde. Unter Geschichtswissenschaft wird im deutschsprachigen Raum deshalb auch weiterhin vor allem eine Politik- oder Gesellschaftsgeschichte verstanden, die sich an bestimmten, als „renommiert“ charakterisierten Fakultäten und Instituten eingerichtet hat. Krise der Geschichtswissenschaft war immer dann, wenn neue, womöglich sogar in anderen Ländern entwickelte Methoden und Episteme von Akteuren in Anspruch genommen wurden, die sich außerhalb dieser Machtzentren befanden. Eine bedeutende Schwäche der Geschichtswissenschaft war und ist es, neuen Problematisierungen, die durch vertikale Disziplinen wie Geschlechter-, Körper-, Medien- oder Wissensgeschichte ebenso ausgedrückt wurden wie durch die cultural, practical oder material turns, in aller Regel mit Zurückweisung zu begegnen, höchstens aber mit einer additiven Inanspruchnahme. Ungern erinnere ich mich daran, dass noch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in manchen Übungen am Historischen Seminar der Universität Hamburg mit dem Gestus der Großzügigkeit eine letzte, dann auch oft schlecht besuchte Sitzung der „Frauengeschichte“ gewidmet wurde.
Auch jene älteren Teildisziplinen wie Wissenschafts-, Technik- oder Medizingeschichte, denen schon in ihrem Themenbereich ein prekärer Status zukommt, wurden und werden in der Geschichtswissenschaft als eigentlich nicht zugehörig verstanden. So spielten diese auch auf dem Deutschen Historikertag lange Zeit nur eine Außenseiterrolle und wurden auf ihre eigenen Fachverbandstagungen zurückverwiesen. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen bleibt die Trennung schon der geschichtswissenschaftlichen Fächer selbst bestehen, von Interdisziplinarität kann kaum die Rede sein. Wer in eine der Teildisziplinen geraten ist, findet nur selten in die eine Geschichtswissenschaft zurück. So wäre es wohl zukünftig besser, von Geschichtswissenschaften, also im Plural zu sprechen. Dass ich etwa, wenn ich mich wissenschaftshistorisch mit der Historialität von Hormonen befasse, nichts über die Gesellschaft aussagen kann, ist mir aus Reihen der Geschichtswissenschaft ebenso entgegnet worden wie aus den Reihen der Lebenswissenschaften. Die einen verteidigen ihren privilegierten Zugang zum Sozialen, die anderen zur Natur. Um zu erahnen, dass dies wenig dabei hilft, sich mit den heutigen gesellschaftlichen Konstellationen auseinanderzusetzen, müssen nicht einmal Bruno Latour oder Donna Haraway bemüht werden.
Nein – nicht nur. Wenn wir heute über eine Krise der Geschichtswissenschaften reden, dann müssen wir zuallererst über das akademische Feld nachdenken. Natürlich ist die Universität das Problem – natürlich sind die Ordinarien das Problem (ob sie es wollen oder nicht). Die habitualisierte Idee, dass Leistung zu Erfolg führt und sich dies dann in einer professoralen Stellung verwirklicht, stärkt ein System, das nur die Anpassung an jene Regeln und Praktiken belohnt, deren kluge Befolgung Einzelne überhaupt erst auf die begehrten entfristeten Stellen gehievt hat. Die Leistung ist doch weniger analytisches, kritisches Denken, sondern die gelungene Anwendung von Karrieretechniken, deren Hauptmerkmal im fehlerfreien Aufsagen eines Kanons besteht. Das soll nicht heißen, dass sich gute Geschichtswissenschaft und gelungenes Selbstmanagement, das zu einer Professur führt, ausschließen – allerdings ist letzteres systemisch wichtiger geworden. Dies betrifft nicht nur die raren Planstellen an den Instituten und Abteilungen, sondern ebenso auch die Drittmitteleinwerbung. Die existenziell bedeutsame Drittmittelvergabe hat einen disziplinierenden Effekt, weil das kontrollierende Gutachten – das nur allzu oft der Bestätigung des Bestehenden dient – bei der Textproduktion immer mitgedacht werden muss: Habe ich das etablierte Feld genug gewürdigt? Wie häretisch darf ich beim Arrivieren sein? (hier taucht notwendigerweise sofort Bourdieu‘sches Vokabular auf). Das Ergebnis ist – in einem System, das immer mehr Abhängigkeiten produziert, also unter Konventionsdruck – doch zumeist eine gewisse angepasste Bravheit. Wie soll so etwas Neues entstehen? Es sind heute nicht von ungefähr die kleinen, außerhalb der Universität platzierten Projekte – etwa Geschichte der Gegenwart oder Cache,[2]. beide wohl nicht von ungefähr in der Schweiz situiert, sowie Body Politics, an dem ich selbst beteiligt bin –, die viel produktiver bei der Herstellung neuer Wissensverbindungen und -formen sind. Wer etwas Interessantes schreiben möchte, muss sich selbst dafür Räume suchen, die nicht systemerhaltend kontrolliert werden. Das aber können sich nicht alle leisten. Abgesehen davon, dass der Ort Universität auch nicht so schnell aufgegeben werden sollte.
Ohne Entfristungen wird es auch keine guten Geschichtswissenschaften geben. Der erste Schritt wäre also wenig originell, aber weiterhin unerlässlich der Umbau der Fakultäten. Lehrstühle müssten abgebaut und verpflichtend durch gleichberechtigte Teams ersetzt werden. Der Abschluss der Qualifikation wäre die Promotion. Eine Habilitation dürfte es nicht mehr geben. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz gehört selbstverständlich komplett abgeschafft. Dann würden auch von sich aus die entwürdigenden Begriffe „Nachwuchs“ und „Mittelbau“ verschwinden. Notwendigerweise müsste eine entsprechende universitäre Neugestaltung alle Bereiche betreffen und an die Auflage gebunden sein, dass der Lehrstuhl auch in dauerhafte Teamstellen umgewidmet wird. Dass entsprechend in den letzten Jahren über die Einführung eines angloamerikanischen Departmentsystem diskutiert wird, ist allerdings schon ein wenig deprimierend, da dies ja bereits eine der zentralen Debatten in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre gewesen ist, ohne dass sich seitdem etwas nachhaltig geändert hat. Die Fakultäten und ihr führendes Personal haben Krallen.
Der Verlust an Einkommen und Status müsste durch einen Gewinn an Sicherheit und Forschungsfreiheit ersetzt werden. Ebenso müssten die Drittmittelverfahren erheblich vereinfacht werden. In den Forschungsförderungsinstitutionen scheint das ja zumindest ansatzweise diskutiert zu werden. Nach einer groben Vorsortierung sollte das Losverfahren zählen (auch psychologisch besser, weil die Kränkung so durch schlichtes Pech ersetzt wird). Die Bedingung produktiver Geschichtswissenschaften ist die Abschaffung der Begutachtungskultur und – um mich aus dem Fenster zu lehnen – auch des peer-review-Verfahrens. Pathetisch ausgedrückt braucht es eine Entmachtung und Entlastung der Gutachtenden. Wird dann einfach alles publiziert werden? Wie kann dann eine Qualitätskontrolle garantiert werden? Aber wäre es nicht besser, wenn die Texte gelesen, als dass sie ohnehin nur gemäß der universitären Ökonomie von LOM-Mitteln bewertet werden? Bei einer überschaubaren Menge an notorisch überarbeiteten Gutachtenden setzt sich notwendigerweise eine Kultur des „das macht man so“ und „das gehört sich so“ durch, die sich nicht durch die Gebote der Wissenschaftlichkeit erklären lassen. Die imaginierte Meritokratie schafft eine lähmende Kompetitivät. Wie dumm wäre ich, würde ich mich in einem Forschungsantrag diesen Konventionen widersetzen? Und selbst wenn ich auf taktische Weise die Erwartungen des Feldes erfülle, werde ich, wenn der Antrag dann durch ist, mich wirklich wieder von den inhaltlichen und sprachlichen Zwängen, die wir Antragslyrik nennen, befreien können?
Aktuell sind die Geschichtswissenschaften mehr von Schreibangst, denn Schreiblust geprägt. Eine noch zu prüfende These wäre, dass sich das Autoritäre seit den 1970er Jahren in den historischen Fakultäten verschanzt hat. Antiautoritäre Geschichtswissenschaften müssen also erst noch verwirklicht werden. Im Schreiballtag geht es heute doch zumeist um die korrekte Bewältigung von Regularien, die schließlich wieder in den Rezensionen bis zur Fußnotenkontrolle abgefragt und beurteilt werden. Wissenschaft verlangt selbstverständlich nach einem gewissen Regelwerk, das allerdings ständig neu befragt werden muss, um nicht zur Routine zu werden. Die Geschichtswissenschaften zeichnen sich doch aber vor allem auch durch eine gewisse Literalität aus, die allerdings schon in der Ausbildung kaum gefördert wird und der eher die Rolle eines (nicht immer) erwünschten Nebeneffekts zukommt. „Sie schreiben ja sehr flott“, raunte mir einmal, als ich schon längst Postdoc war, ein angesehener Professor wohlmeinend zu. Ich fand das zwar gar nicht, aber verstand die Warnung. Natürlich ist geschichtswissenschaftliches Forschen zunächst Beamtenarbeit, aber deshalb müssen nicht unbedingt auch Behördentexte entstehen. Das soll wiederum nicht bedeuten, sich den Marktgesetzen des Feuilletons zu unterwerfen, die zunehmend und drängend auf Vereinfachung abzielen. Auch ein strenger und komplexer Text, der die unbedingt notwendige Abstraktion und Begriffsbildung leistet, ist stilistisch, literarisch. Die Reduzierung von Qualifizierungsschriften, die vor allem im Feld der Zulassungsbeschränkungen funktionieren sollen, könnte jedenfalls helfen, dass mehr, meinetwegen auch noch mehr Texte entstehen, deren Lektüre überraschend und anregend ist.
Nicht nur, oder besser: nicht ausschließlich. Denn es soll ja keineswegs die eine große Stärke der Geschichtswissenschaften aufgegeben werden, die ihnen in der Öffentlichkeit auch vor allem zugewiesen wird: Die fundierte investigative Aufarbeitung, wie sie gerade in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren im Bezug auf den Nationalsozialismus stark gemacht worden ist. Natürlich bleiben akribische Archivforschung und Quellenarbeit weiter zentral, gerade weil diesen eine so eminent wichtige politische Funktion zukommt. Keine Gesellschaft kann und darf ohne diese Arbeit an der Wahrheit auskommen. Nur ist die unbedingt notwendige Aufdeckung von Verbrechen, die „Täter“ und „Opfer“ herausarbeitet, in den letzten Jahrzehnten zunehmend für die Geschichtswissenschaft insgesamt genommen worden. Dies bedeutet auch, dass die Forschung sich methodisch nicht mehr befragt hat und das Handwerkszeug des Faches begrenzt wurde: Handelnde, Motive, Ereignisse. Deshalb wäre unbedingt auch eine methodische Entgrenzung wünschenswert, eine Stärkung der Neugierde für Fachfremdes. Und das meint schon auch andere Problematisierungen, wie sie etwa zu Beginn dieses Jahrhunderts in der Wissenschaftsforschung diskutiert wurden. Das Schwinden der Theorie, das allenthalben konstatiert wird, konnte für die Geschichtswissenschaften durchaus auch befreiend sein, erschwert aber eben doch auch die methodische Erneuerung.
Wenn es ein Vorbild braucht, um solche zukünftigen Geschichtswissenschaften zu beschreiben, dann lieferte es Michel Serres bereits Ende der 1990er Jahre in Bezug auf die Wissenschaftsgeschichte. Der französische Philosoph skizzierte bildreich, dass die Geschichte (der Wissenschaften) unbeständig durch ein vielfältiges und komplexes Netz von Wegen, Straßen, Bahnen, Spuren eile, „die sich verflechten, verdichten, kreuzen, verknoten, überlagern, oft mehrfach verzweigen“: Eine Vielzahl unterschiedlicher Zeitmaße, Disziplinen, Ideen von Wissenschaft, eine Mannigfaltigkeit von Gruppen, Institutionen, Kapitalien, Menschen, die sich einig sind oder bekämpfen, von Maschinen, Gegenständen, Prognosen und unvorhergesehenen Zufällen bilde zusammen ein schwankendes Gefüge, das die vielfältige Geschichte der Wissenschaften getreu darstelle.[3]
Eine solche Arbeit am „schwankenden Gefüge“ könnte einerseits der Falle des Teleologischen entgehen, welche die marxistische Geschichtswissenschaft, aber auch die Modernisierungsthesen der Gesellschaftsgeschichte so geschwächt hat, und wäre dann auch wirklich zuständig für gegenwärtige Fragen – weniger bestätigend, denn irritierend. Schließlich ist es eine weitere große Stärke der Geschichtswissenschaften, die durch den strukturellen Zwang zur Konvention zunehmend unterdrückt worden ist, Selbstverständlichkeiten zu problematisieren. Historiografisches Arbeiten als eine kritische Wissenschaft darf es gerade nicht um die Bestätigung aktueller, mithin kontingenter Gewissheiten gehen. In diesem Sinne sollte auch das Projekt der Dekonstruktion noch nicht gleich ad acta gelegt werden, nur weil ein paar gefährliche Dummköpfe mit der Realität spielen. Die ständige Selbsterneuerung und Selbstkritik bleiben doch weiterhin die maßgeblichen Praktiken aller Geschichtswissenschaften.