Ein Markt ist kein Urzustand, der sich ganz von allein im freien Spiel der Kräfte entwickelt. Märkte brauchen Regeln und robuste Sanktionen. Der akademisch approbierte Historiker denkt da gleich an das kleine ABC aus dem Proseminar, und das mit gutem Grund. Es gibt in den Sumpfgebieten der digitalen Welt eine Menge Anschauungsmaterial, was alles passieren kann, wenn man bei Quellenkritik, Faktencheck und Methodenreflexion nachlässig wird. Eine robuste Qualitätskontrolle ist der Anfang von allem, und es könnte nicht schaden, wenn die entsprechende Arbeit etwas mehr sichtbare Anerkennung fände. Nach den Plagiatsskandalen der vergangenen Jahre, bei denen akademische Institutionen meist eher als Gejagte denn als Jäger fungierten, wäre es eigentlich überfällig, einen Preis zu schaffen, der Verdienste um die Qualitätssicherung in der Geschichtswissenschaft honoriert.
Das Dumme ist nur, dass man beim Einsatz für wissenschaftliche Standards leicht in einem Habitus landet, der strukturell innovationsfeindlich ist. Nie werde ich vergessen, wie ich über das Konzept für ein Sonderheft mit der HerausgeberIn einer angesehenen Fachzeitschrift sprach und meine Überlegungen die stereotype Antwort im Namen des erlauchten Herausgebergremiums provozierten: „Wir sichern die wissenschaftliche Qualität.“ Wer eine unternehmungslustige, risikofreudige Geschichtsforschung haben möchte, muss auch über einen sehr deutschen Akademikertyp reden, der ganz genau weiß, was „die Literatur“ ist, die man „zur Kenntnis nehmen“ muss.
Viele Entscheidungen über Stellen und Chancen werden in Gremien getroffen, und in den einschlägigen Verhandlungen haben Bedenkenträger leichtes Spiel. Es ist in langen Sitzungen viel einfacher, missliebige Kandidaten zu verhindern als unternehmungslustige zu fördern, und gremienerfahrene Akademiker wissen, wie man unorthodoxe Ideen und Kandidaten torpediert, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen. Dann sind Konzepte „schwach“ oder „nicht überzeugend“, und Vorschläge „werden kritisch gesehen“. Das täterlose Passiv, das gute akademische Lehrer in studentischen Hausarbeiten monieren, kommt in solchen Situationen zu neuen Ehren. Jeder ungewöhnliche Vorschlag lässt sich mit dem Hinweis abschießen, der Anspruch gedanklicher Originalität dokumentiere doch lediglich „mangelnde Lektüre“.
Ohne Gremien geht es in der heutigen Welt nicht mehr, und gewiss will kein vernünftiger Mensch zurück zu vergangenen Zeiten, in denen ein Anruf vom Großordinarius über akademische Karrieren entschied. Aber vielleicht hängt die Zukunft der Geschichtswissenschaft auch an einer neuen Gremienkultur, die Räume schafft für Risiken und Innovationen. Vielleicht traut sich ja mal ein Geldgeber, ein Auswahlverfahren im Stile des Speeddating aufzuziehen. Ich kenne kein gutes historisches Forschungsprojekt, das sich nicht innerhalb von drei Minuten in groben Zügen erklären ließe.
Bei einem solchen Vorgehen würden Projekte, die etwas differenzierter als bisher analysieren wollen, rasch aussortiert. Das gleiche gilt für Bewerber, sich mit quasireligiöser Begeisterung über einen bestimmten methodischen Ansatz auslassen. Unorthodoxe Themen hätten eine Chance, wenn sie ihre Relevanz jenseits der eigenen disziplinären Subkultur verdeutlichen können. Zu einer zukunftsfähigen Geschichte gehört das Ende der Nischen, weil es ohne die großen Zusammenhänge nicht mehr geht. In der heutigen Welt hängt ziemlich viel mit vielem anderen auf ganz unterschiedliche Weise zusammen, und das war in der Vergangenheit nicht grundsätzlich anders. Wir brauchen HistorikerInnen, die vernachlässigte Themen kompetent analysieren und in multiplen Kontexten verorten können, ohne sich in der Komplexität zu verlieren.
Eine zukunftsfähige Geschichtswissenschaft denkt Märkte immer im Plural. Es gibt die Fachwissenschaft in konzentrischen Kreisen: vom Zirkel der Spezialisten bis zur Gesamtheit der Disziplin. Dann gibt es die Medien in ihrer grandiosen Vielgestaltigkeit und die digitalen Formate. Wer da nur eine Zuhörerschaft im Blick hat, landet bestenfalls in der intellektuellen Monokultur und schlimmstenfalls in der Verbrüderung mit dem Studienobjekt. Es gibt eine Menge Aktivismus im akademischen Gewand, und das läuft letztlich auf das historiographische Äquivalent zur Zuckerbrause hinaus: schmeckt erst mal lecker, wirkt aber auf lange Sicht ruinös. Gute Historiker wahren Distanz und erklären bei Bedarf auch den einschlägigen Interessenten, warum sie besser fahren, wenn sie den Blick von außen zulassen. Dass sie großartig sind und mehr Beachtung verdienen, wissen Verbände, Parteien und Opfergruppen meist schon selbst.
Es ist zugegebenermaßen etwas stressig, wenn es nicht mehr den einen seligmachenden Referenzrahmen gibt. Aber die klar definierten Karrierepfade sind halt auch eine der trügerischen Gewissheit, an die man sich besser nicht zu panisch klammert. Manches ist im Global Village der heutigen Wissenschaftswelt auch einfach obsolet. Ich hoffe zum Beispiel sehr, dass die klassische Kurzvita deutscher Akademiker – Dissertation, Habilitation, aktuelle Stellung – ein Auslaufmodell ist. Qualifikationsschriften sind wichtig und werden es wohl auch bleiben, aber sie sind gewiss nicht die einzigen Belege wissenschaftlicher Kompetenz und vielleicht auch nicht die aussagekräftigsten. Es gibt keine Checkliste für zukunftsfähige Geschichtswissenschaft, und das kann man auch als befreiend empfinden.
Nach Jahrzehnten als akademischer Grenzgänger weiß ich: Der Hunger nach neuen Themen und neuen Perspektiven ist fachintern enorm und im Rest der Gesellschaft erst recht. Mit Abenteuerlust und der nötigen Arbeitsdisziplin kann man da eine Menge Spaß haben, und vielleicht ist das ja das Eigentliche? Mein akademischer Mentor Peter Lundgreen fragte die Doktoranden in meinem Graduiertenkolleg regelmäßig, warum sie ihrem Thema „drei Jahre unendlich kostbare Lebenszeit“ widmen wollten. Seitdem war für mich klar: Wenn ich diese Frage nicht mehr beantworten kann, mache ich etwas anderes.