Ich gehörte mehr als ein Jahrzehnt zum akademischen Prekariat und war noch „Nachwuchs“ in einem Alter, in dem andere bereits Bundesminister a.D. waren. 2013 wechselte ich auf eine unbefristete Stelle an der University of Birmingham in Großbritannien, von der ich jetzt nach Deutschland zurückkehre. Seit dem 1. Juni bin ich Professor für Technik- und Umweltgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Und frage mich beim Lesen dieser Beiträge: War es wirklich eine gute Idee, ein deutscher Professor zu werden?
Geschichtswissenschaft in unseren Zeiten
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Frank Uekötter
Was sind die zentralen Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft? Oder: Wo steht die Geschichtswissenschaft deshalb gegenwärtig?
Es ist in der angelsächsischen Welt üblich, im Smalltalk über den deutschen Professor zu lästern. Ich kann nicht behaupten, mich daran nie beteiligt zu haben, zum Beispiel mit der Bemerkung, das deutsche akademische System vereine auf kongeniale Weise die Nachteile von Feudalsystem und Planwirtschaft. Man darf nicht übersehen, dass hinter den Kommentaren eine ordentliche Portion Respekt steckt. Der deutsche Professor wird international wahrgenommen, das gilt nicht für viele Länder dieser Welt. Es ging in einschlägigen Runden auch nur selten um Kompetenz und Leistung und umso häufiger um das andere. Der deutsche Professor ist halt schrecklich... kompliziert.
Wie das aus Sicht derjenigen aussieht, die als NachwuchsforscherInnen in ungesicherter Stellung arbeiten, lässt sich aus vielen der bereits veröffentlichten Kommentare destillieren. Der deutsche Professor ist, so der Tenor, hierarchisch, unzugänglich, abgehoben, innovationsfeindlich, verantwortungslos. Gern würde ich da entgegen, dass ich ganz bestimmt nicht so bin und meine neuen Kollegen an der Ruhr-Universität natürlich auch nicht. Und dass es Hierarchien auch in der angelsächsischen Welt gibt und in der Welt jenseits des akademischen Elfenbeinturms erst recht.
Aber noch habe ich nicht vergessen, dass auch ich viel erlebt habe, was sich mit den geschilderten Erfahrungen verbinden lässt. Außerdem treibt mich ein weiser Satz von Joschka Fischer um: Die Veränderung des Menschen durch das Amt geht schneller als die Veränderung des Amtes durch den Menschen.
Interessanterweise scheint bislang keiner der Autoren darüber nachgedacht zu haben, was eigentlich dahintersteckt, wenn mal wieder ein Professor den Ordinarius heraushängen lässt. Ich habe eine Vermutung. Vielleicht spricht daraus das dominante Gefühl unserer Zeit: die Unsicherheit. Wo soll auch die Gewissheit herkommen, wenn wir in einer Zeit rasanten Wandels leben. Es gibt neue Themen, neue Methoden, neue Fragen, neue politische Kontexte, neue internationale Zusammenhänge, neue Wege der Geschichtsvermittlung. Wer da so tut, als wüsste man ganz genau, wie es laufen sollte, wirkt ziemlich schnell lächerlich, auch als deutscher Professor.
Es könnte für alle Beteiligten hilfreich sein, die Unsicherheit offen einzugestehen und an den Anfang jedes Gesprächs über die Zukunft der Geschichtswissenschaft zu stellen. Es ist eine Menge ins Rutschen gekommen in den vergangenen Jahren. Wer mag schon sagen, ob die Qualifikationsschriften in zehn Jahren noch das heutige Gewicht im Lebenslauf haben. Oder ob die unbefristeten Stellen tatsächlich sicher sind.
Bei meiner letzten Konferenz in England kam ich an eine Universität, an der gerade allen Geisteswissenschaftlern die Entlassung droht, verbunden mit der freundlichen Aufforderung, sich doch auf die freiwerdenden Stellen erneut zu bewerben. Im Moment wirkt das öffentliche Dienstrecht in Deutschland noch ziemlich robust, aber wie mag das in zwei Jahrzehnten aussehen, wenn die öffentlichen Haushalte in die Knie gehen und die AfD ihre zweite Koalitionsregierung auf Bundesebene verhandelt? Wer die vergangenen Jahre auf den britischen Inseln verbracht hat, hegt eine tiefe Skepsis gegenüber allen, die wissen, wie es kommt.
Was zeichnet die deutsche Geschichtswissenschaft aus? Welche bestehenden Aspekte sollten gestärkt werden?
Auf mich wirkt die deutsche Geschichtswissenschaft wie ein Großkonzern, der schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat und sein Geld vor allem mit einem Premiumprodukt verdient, vielleicht vergleichbar mit Ford in der Zeit des Model T (ohne den Antisemitismus des Gründervaters) oder Coca-Cola vor dem Aufstieg von Pepsi. Das Premiumprodukt der deutschen Geschichtswissenschaft ist die kritische Erinnerungskultur, die für mich der beste Umgang mit dem nationalgeschichtlichen Erbe unseres Faches ist, den ich kenne. Wie gesagt: Ich habe die vergangenen Jahre in England gelebt. Ich weiß, was passieren kann, wenn die Gespenster der nationalen Vergangenheit übermächtig werden.
Aber wie es bei einem Premiumprodukt so ist: Märkte verändern sich irgendwann, Kundenwünsche diversifizieren sich, und auch ein mächtiger Konzern rutscht in die Krise, wenn er darauf nicht reagiert. Das liegt zum Teil an den Veränderungen der deutschen Gesellschaft. In deutschen Schulen sitzen eine Menge Kinder, die beim Thema Nationalsozialismus distanziert zuhören, weil die eigenen Vorfahren damals nicht in Deutschland lebten.
Wer das empörend findet, war noch nie Migrant. Auch nach zehn Jahren England schüttelt es mich bei dem Gedanken, ich könnte einen Weltkrieg gewonnen haben. Außerdem hängt die bundesdeutsche Erinnerungskultur an einer politisch-moralischen Monochromie, in der man bei vielen Tagesfragen nicht weit kommt. Bei Finanzkrisen geht es ja nicht nur um skrupellose Spekulanten, sondern zum Beispiel auch um Investitionen und Rücklagen für das Alter. Auch bei der Energiewende und der Pandemie gibt es einen Pluralismus legitimer Ansprüche, dem man argumentierend gerecht werden muss.
Es gibt Spezialisten für Banken-, Energie- und Medizingeschichte, aber da fängt es ja schon an: Spezialgebiet! Nur zu betreten mit ordnungsgemäß nachgewiesener Qualifikation! Für die Überweisung gibt es Formulare im Sekretariat für neueste Geschichte. Es sieht schlecht aus für die deutsche Geschichtswissenschaft, wenn sie lediglich aus einem tribalistischen Sammelsurium einer ausufernden Zahl von Subdisziplinen besteht. Die Pandemie hat uns nachdrücklich daran erinnert, dass es tatsächlich nur eine Geschichte gibt.
Mit einer Unterscheidung zwischen Kerngeschäft und fakultativen Extras werden wir im 21. Jahrhundert nicht weit kommen. Im Großkonzern Geschichtswissenschaft ist Diversifizierung überfällig, und das nicht im Stile des Outsourcing, sondern im Sinne eines intensiv vernetzten großen Ganzen. Unsere Gegenwart ist vielfältig, da sollte die Geschichtsforschung nicht anders sein, und auf diversen Märkten gibt es auch immer noch Kunden für das Premiumprodukt. Coca-Cola verdient schließlich immer noch Geld mit dem Original.
Wie sieht die beste aller Zukünfte der Geschichtswissenschaft aus?
Ein Markt ist kein Urzustand, der sich ganz von allein im freien Spiel der Kräfte entwickelt. Märkte brauchen Regeln und robuste Sanktionen. Der akademisch approbierte Historiker denkt da gleich an das kleine ABC aus dem Proseminar, und das mit gutem Grund. Es gibt in den Sumpfgebieten der digitalen Welt eine Menge Anschauungsmaterial, was alles passieren kann, wenn man bei Quellenkritik, Faktencheck und Methodenreflexion nachlässig wird. Eine robuste Qualitätskontrolle ist der Anfang von allem, und es könnte nicht schaden, wenn die entsprechende Arbeit etwas mehr sichtbare Anerkennung fände. Nach den Plagiatsskandalen der vergangenen Jahre, bei denen akademische Institutionen meist eher als Gejagte denn als Jäger fungierten, wäre es eigentlich überfällig, einen Preis zu schaffen, der Verdienste um die Qualitätssicherung in der Geschichtswissenschaft honoriert.
Das Dumme ist nur, dass man beim Einsatz für wissenschaftliche Standards leicht in einem Habitus landet, der strukturell innovationsfeindlich ist. Nie werde ich vergessen, wie ich über das Konzept für ein Sonderheft mit der HerausgeberIn einer angesehenen Fachzeitschrift sprach und meine Überlegungen die stereotype Antwort im Namen des erlauchten Herausgebergremiums provozierten: „Wir sichern die wissenschaftliche Qualität.“ Wer eine unternehmungslustige, risikofreudige Geschichtsforschung haben möchte, muss auch über einen sehr deutschen Akademikertyp reden, der ganz genau weiß, was „die Literatur“ ist, die man „zur Kenntnis nehmen“ muss.
Viele Entscheidungen über Stellen und Chancen werden in Gremien getroffen, und in den einschlägigen Verhandlungen haben Bedenkenträger leichtes Spiel. Es ist in langen Sitzungen viel einfacher, missliebige Kandidaten zu verhindern als unternehmungslustige zu fördern, und gremienerfahrene Akademiker wissen, wie man unorthodoxe Ideen und Kandidaten torpediert, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen. Dann sind Konzepte „schwach“ oder „nicht überzeugend“, und Vorschläge „werden kritisch gesehen“. Das täterlose Passiv, das gute akademische Lehrer in studentischen Hausarbeiten monieren, kommt in solchen Situationen zu neuen Ehren. Jeder ungewöhnliche Vorschlag lässt sich mit dem Hinweis abschießen, der Anspruch gedanklicher Originalität dokumentiere doch lediglich „mangelnde Lektüre“.
Ohne Gremien geht es in der heutigen Welt nicht mehr, und gewiss will kein vernünftiger Mensch zurück zu vergangenen Zeiten, in denen ein Anruf vom Großordinarius über akademische Karrieren entschied. Aber vielleicht hängt die Zukunft der Geschichtswissenschaft auch an einer neuen Gremienkultur, die Räume schafft für Risiken und Innovationen. Vielleicht traut sich ja mal ein Geldgeber, ein Auswahlverfahren im Stile des Speeddating aufzuziehen. Ich kenne kein gutes historisches Forschungsprojekt, das sich nicht innerhalb von drei Minuten in groben Zügen erklären ließe.
Bei einem solchen Vorgehen würden Projekte, die etwas differenzierter als bisher analysieren wollen, rasch aussortiert. Das gleiche gilt für Bewerber, sich mit quasireligiöser Begeisterung über einen bestimmten methodischen Ansatz auslassen. Unorthodoxe Themen hätten eine Chance, wenn sie ihre Relevanz jenseits der eigenen disziplinären Subkultur verdeutlichen können. Zu einer zukunftsfähigen Geschichte gehört das Ende der Nischen, weil es ohne die großen Zusammenhänge nicht mehr geht. In der heutigen Welt hängt ziemlich viel mit vielem anderen auf ganz unterschiedliche Weise zusammen, und das war in der Vergangenheit nicht grundsätzlich anders. Wir brauchen HistorikerInnen, die vernachlässigte Themen kompetent analysieren und in multiplen Kontexten verorten können, ohne sich in der Komplexität zu verlieren.
Eine zukunftsfähige Geschichtswissenschaft denkt Märkte immer im Plural. Es gibt die Fachwissenschaft in konzentrischen Kreisen: vom Zirkel der Spezialisten bis zur Gesamtheit der Disziplin. Dann gibt es die Medien in ihrer grandiosen Vielgestaltigkeit und die digitalen Formate. Wer da nur eine Zuhörerschaft im Blick hat, landet bestenfalls in der intellektuellen Monokultur und schlimmstenfalls in der Verbrüderung mit dem Studienobjekt. Es gibt eine Menge Aktivismus im akademischen Gewand, und das läuft letztlich auf das historiographische Äquivalent zur Zuckerbrause hinaus: schmeckt erst mal lecker, wirkt aber auf lange Sicht ruinös. Gute Historiker wahren Distanz und erklären bei Bedarf auch den einschlägigen Interessenten, warum sie besser fahren, wenn sie den Blick von außen zulassen. Dass sie großartig sind und mehr Beachtung verdienen, wissen Verbände, Parteien und Opfergruppen meist schon selbst.
Es ist zugegebenermaßen etwas stressig, wenn es nicht mehr den einen seligmachenden Referenzrahmen gibt. Aber die klar definierten Karrierepfade sind halt auch eine der trügerischen Gewissheit, an die man sich besser nicht zu panisch klammert. Manches ist im Global Village der heutigen Wissenschaftswelt auch einfach obsolet. Ich hoffe zum Beispiel sehr, dass die klassische Kurzvita deutscher Akademiker – Dissertation, Habilitation, aktuelle Stellung – ein Auslaufmodell ist. Qualifikationsschriften sind wichtig und werden es wohl auch bleiben, aber sie sind gewiss nicht die einzigen Belege wissenschaftlicher Kompetenz und vielleicht auch nicht die aussagekräftigsten. Es gibt keine Checkliste für zukunftsfähige Geschichtswissenschaft, und das kann man auch als befreiend empfinden.
Nach Jahrzehnten als akademischer Grenzgänger weiß ich: Der Hunger nach neuen Themen und neuen Perspektiven ist fachintern enorm und im Rest der Gesellschaft erst recht. Mit Abenteuerlust und der nötigen Arbeitsdisziplin kann man da eine Menge Spaß haben, und vielleicht ist das ja das Eigentliche? Mein akademischer Mentor Peter Lundgreen fragte die Doktoranden in meinem Graduiertenkolleg regelmäßig, warum sie ihrem Thema „drei Jahre unendlich kostbare Lebenszeit“ widmen wollten. Seitdem war für mich klar: Wenn ich diese Frage nicht mehr beantworten kann, mache ich etwas anderes.
Was würdest Du gerne in einer optimalen Geschichtswissenschaft auf die Beine stellen?
Natürlich habe ich als frischberufener Professor Projekte, die ich realisieren möchte. Aber vielleicht ist eine andere Aufgabe wichtiger. Eine lebendige, innovationsfreudige Geschichtsforschung lebt von Freiräumen für Menschen, die sich neuen Ideen, neuen Themen, neuen Formen der Geschichtsvermittlung widmen wollen, und solche Freiräume muss man als Professor gezielt schaffen. Der Herdentrieb der akademischen Welt wird sonst leicht übermächtig, vom Habitus des akademischen Feudalsystems einmal ganz zu schweigen. Produktive Freiräume sind auch etwas anderes als akademisches Laissez-faire, das nur zu leicht in Gleichgültigkeit umschlägt. Das Leistungsprinzip gilt auch, ja vielleicht noch mehr in einem offenen Feld. Man darf sich nur nicht mehr allzu sicher sein, was eine akademisch signifikante Leistung darstellt.
Akademische Geschichtswissenschaft ist für mich ein tägliches Wunder. Hier regiert das Wort, das bessere Argument, und solche Orte sind selten in einer Welt, in der ansonsten Geld und Macht dominieren. Die Freiheit der Wissenschaft hängt an Regeln, aber letztlich ist sie mehr als das: Sie ist eine Lebensform, für die man sich bewusst entscheiden muss, im vollen Bewusstsein der Risiken. Ist uns eigentlich klar, wie privilegiert wir sind? Es ist nicht leicht, über das Leben als Wissenschaftler zu schreiben, ohne im Pathos oder im Kitsch zu landen. Aber vielleicht ist das ja auch eines der Risiken, mit denen wir halt leben müssen.