Ich bin Philipp Janssen und habe Geschichte, Germanistik sowie Journalismus in Berlin und Bochum studiert. Bewusst und dennoch schweren Herzens habe ich mich gegen die Karriere in der Wissenschaft entschieden und bin seither in der freien Wirtschaft tätig. Trotzdem möchte ich noch ein militärgeschichtliches Buch schreiben. Seit 2018 produziere ich unentgeltlich in meiner Freizeit den Podcast „Anno PunktPunktPunkt“[1]. Dort spreche ich mit Forschenden über ihre aktuellen Projekte und Bücher. Mein Ziel ist es, weniger bekannten Themen eine Bühne zu bieten und interessierten Menschen die faszinierende Vielfalt der Geschichte näher zu bringen.
Geschichte neu erzählen: Die unbeachtete Macht der Wissenschaftskommunikation endlich entfesseln
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Philipp Janssen
Was sind die zentralen Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft?
Die deutsche Geschichtswissenschaft steht gegenwärtig vor zentralen Problemen. Kernproblem sind die nahezu ausschließlich befristeten Verträge für Forschende, die zu Unsicherheit und mangelnder Planbarkeit führen. Dies hat negative Auswirkungen auf die Forschungsleistung und den Fortschritt in der eigenen Arbeit.
Ein weiteres Problem ist die Erwartungshaltung des Wissenschaftsbetriebs, dass Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler über ein breites Spektrum an Fähigkeiten verfügen, die nichts mit Forschung oder Lehre zu tun haben und die sie auch nie beigebracht bekommen haben, wie Flyerdesign, Konferenzorganisation oder das Produzieren eines Podcasts. Dies führt zu Zeit- und Energieverlust, der sich ebenfalls negativ auf die eigene Forschung auswirkt, für die sie eigentlich eingestellt wurden. Die Folgen sind enormer Stress, wenig Fortschritt in der Forschung und der ständige Druck, eine Anschlussfinanzierung und -beschäftigung zu finden. Insbesondere für Forschende mit Familie verstärken sich diese Belastungen noch.
Die nachvollziehbare Vernachlässigung der Wissenschaftskommunikation ist eine weitere Herausforderung. Der traditionelle Abendvortrag allein ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist wichtig, auch neue Wege zu beschreiten, um Forschungsergebnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Alle Versuche, neue Wege einzuschlagen, passieren jedoch außerhalb von Academia und/oder in der eigenen, raren Freizeit. So ist mein Podcast "Anno PunktPunktPunkt", der eine Plattform für unbekannte Forschungsprojekte bietet, ein gutes Beispiel dafür: Er wird von mir unentgeltlich außerhalb des Wissenschaftsbetriebs produziert und die Forschenden beteiligen sich ihrerseits zum Großteil in ihrer Freizeit an dem Projekt.
Was zeichnet die deutsche Geschichtswissenschaft aus? Welche bestehenden Aspekte sollten gestärkt werden?
Die Stärke der Geschichtswissenschaft ist es, um Christian Bunnenberg zu zitieren, sich „auf hohem wissenschaftliche[m] Niveau in alle (!) menschengemachte[n] Lebensbereiche, Strukturen, Systeme, Abläufe ein[zu]arbeiten, diese methodisch abgesichert [zu] analysieren und in ihren komplexen Zusammenhängen [zu] beschreiben.“[2] Der Kit, der alles zusammenhält, ist die Leidenschaft, mit der viele in der Geschichtswissenschaft forschen und arbeiten. Und diese Leidenschaft sollte erhalten bleiben und sogar gestärkt werden.
Wie sieht die beste aller Zukünfte der Geschichtswissenschaft aus? Und was machen wir da auf welche Weise, wenn es keinerlei Beschränkungen irgendwelcher Art gäbe?
In der besten aller Zukünfte der Geschichtswissenschaft stelle ich mir eine vielfältige Disziplin vor, die aus den Bereichen Forschung, Lehre und Wissenschaftskommunikation/-vermittlung besteht. Forschende haben die Möglichkeit zu lehren und Lehrende haben die Möglichkeit zu forschen, jedoch zeitversetzt und nicht gleichzeitig. Die Wissenschaftskommunikation wird finanziell und materiell ernsthaft unterstützt, da die Kommunikation historischer Themen in der Öffentlichkeit als wichtig erachtet wird. Die zentrale Frage lautet, wie die Wissenschaftskommunikation noch weiter verbessert werden kann. Die Institute sind mit gut ausgestatteten Backoffice-Teams versehen, die den Historikerinnen und Historikern bei administrativen und organisatorischen Aufgaben unterstützen. Unter ihnen befinden sich Expert*innen, die Veranstaltungen organisieren und digitale sowie analoge Grafik- und Layoutaufgaben erledigen können.
Die große Maxime meiner Vision besteht darin, dass die Geschichtswissenschaft kein Ort ist, an dem Personen dem Burnout ausgeliefert sind. Vielmehr soll sie ein Ort des Forschens, der Ausbildung neuer Forschender und Vermittelnder sowie des öffentlichen Austauschs von Forschungs- und Lehrergebnissen sein.
Was die Räumlichkeiten betrifft, wünsche ich mir Räume und Orte, die für die Menschen gemacht sind und nicht nur von ihnen benutzt werden müssen. Es gibt speziell gestaltete Räume für Studierende, in denen sie optimal arbeiten und lernen können. Verschiedene Raumkonzepte werden angeboten, darunter akustisch gedämpfte Hörsäle, vielfältige Seminarzimmer sowie Nischen und gemütliche Ecken, die über ein Onlinesystem gebucht werden können.
Studierende finden in dieser Zukunft nicht nur hochwertige Ausbildung und Räume vor, sondern auch hierarchiefreie Umgebungen. Sie haben die Möglichkeit, sich auszuprobieren und zu wachsen, und können in ihrem eigenen Tempo arbeiten. Die Räume und das Mindset fördern die Bildung kollaborativer Zirkel. Denn letztendlich stehen Studierende vor der Herausforderung, sich selbst zu organisieren und zu strukturieren. Man sollte ihnen von Anfang an die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellen, um zu verhindern, dass sie in eine Burnout-Spirale geraten. Es ist auch völlig normal, sich mit anderen in Diskussionskreisen zu treffen oder gemeinsam Quellen zu entschlüsseln, um etwas Gemeinsames zu schaffen. Alles, was Studierenden geboten wird, ermöglicht dies.
Im Hintergrund arbeitet eine unterstützende Verwaltung für Mitarbeitende und Studierende, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Sie sind gut erreichbar und bieten Unterstützung an. Mitarbeitende, die aus verschiedenen Gründen kürzertreten möchten, haben die Möglichkeit dazu, und es wird angemessen für Ersatz gesorgt.
Am Ende sind alle gerne Teil der Geschichtswissenschaft, weil es keine Belastung ist, sondern eine Freude. Jeder möchte gerne dazugehören und einen Beitrag leisten.
Was würdest du gerne in einer optimalen Geschichtswissenschaft auf die Beine stellen? Warum geht das gegenwärtig nicht und was müsste man ändern?
Meine Leidenschaft ist und bleibt die Wissenschaftskommunikation. In einer optimalen Geschichtswissenschaft möchte ich einen starken Fokus auf Wissenschaftskommunikation legen. Es finden regelmäßig Veranstaltungen statt, in denen ich mit Studierenden über die Bedeutung und Herausforderungen der Kommunikation von wissenschaftlichen Inhalten spreche und diskutiere. Diese Veranstaltungen könnten in Form von Blockseminaren oder begleitend zum Semester besucht und immer in einem hybriden Format angeboten werden, um sicherzustellen, dass niemand ausgeschlossen wird. Zusätzlich werden alle Inhalte aufgezeichnet, sodass auch diejenigen, die aus räumlichen oder zeitlichen Gründen nicht teilnehmen können, die Möglichkeit haben, sich die Inhalte anzueignen. Digitale Kommunikationstools werden genutzt, um Gruppen zu bilden und den Austausch auch über die räumlichen Grenzen hinweg zu ermöglichen.
Des Weiteren erhalten alle Forschenden und Lehrenden regelmäßige Schulungen, um ihre Themen in verschiedenen Zeitfenstern präsentieren zu können, sei es in einer Minute, drei, fünf, zehn oder 30 Minuten. Es werden spezifische Schulungen für das Sprechen vor Publikum und für Interviews in unterschiedlichen Formaten angeboten. Ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen Beiträgen für die eigene Fachgemeinschaft, für Fachkollegen und für die breite Öffentlichkeit wird geschaffen. Ich persönlich hätte auch gerne die Möglichkeit, einen Geschichtspodcast für Kinder zu produzieren. Hier könnten alle Beteiligten das umsetzen, was sie in den Schulungen gelernt haben.
Mein Ziel ist es, dass Forschende aktiv Themen anbieten, über die diskutiert werden kann und die der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Hierbei ist es mir wichtig, in kollaborativer Weise zu arbeiten, denn nur gemeinsam können wir viel bewegen.