Tobias Winnerling ist Studiengangskoordinator am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und einer von zwei Sprecher*innen des Mittelbaus der Philosophischen Fakultät der HHU. Promoviert wurde er mit einer Arbeit zur Mission des Jesuitenordens in Indien und Japan während des späten 16. Jahrhunderts. Er habilitierte sich mit einer Studie zum Vergessen-Werden in der Wissenschaft zwischen 18. und 20. Jahrhundert. Außerdem ist er Gründungs- und langjähriges Leitungsmitglied des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele. Seine Forschungsinteressen liegen im Überschneidungsbereich von Kultur- und Wissensgeschichte, außereuropäischer Geschichte und Digital History, mit Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit.
Lasst die Maschinen die Arbeit machen – und die Historikerinnen und Historiker mehr Theorie wagen!
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Tobias Winnerling
Die deutsche Geschichtswissenschaft ist tendenziell ein konservatives und traditionsbewusstes Fach, das Neuerungen lieber erst einmal ausgiebig prüft, statt sich für Experimente zu öffnen. Sie steckt viel Energie in die Wahrnehmung und Aufrechterhaltung von Hierarchien, zeremoniellen Formen und tradierten Abläufen, die dann für andere Dinge fehlt. Das führt einerseits dazu, dass Historiker*innen, die sich in einer vielfältigen Medien- und Diskurslandschaft mit vielen anderen Akteur*innen konfrontiert sehen, die sich auch mit Geschichte befassen, Gefahr laufen, den Anschluss zu verlieren und ihre gesellschaftliche Relevanz damit zu schwächen. Andererseits ist dieses System in hohem Maß entlang verschiedener Parameter sozial exklusiv und einem nur dem besseren Argument verpflichteten wissenschaftlichen Austausch an vielen Stellen nicht wirklich zuträglich. Und nicht zuletzt führt es dazu, dass Digitalisierung und technologische Arbeitswerkzeuge als verzichtbare Spielereien gesehen werden, mit denen weder Studierende noch Forschende übermäßig befasst werden sollten.
Die traditionelle doppelte Quellenkritik, der sorgfältige und kritische Umgang mit dem historischen Material, ist eine unverzichtbare methodische Grundlage für jedes geschichtswissenschaftliche Arbeiten. Sie muss aber mit dem Einbezug neuer Formen von Material und Überlieferung aus dem digitalen Raum erweitert werden. Auch solche Materialien müssen in Zukunft mit der gleichen Sorgfalt bearbeitet und ediert werden können wie alles Andere, mit dem sich Historiker*innen bereits jetzt befassen. Die generell mehrsprachige Herangehensweise, die sich nie nur auf Materialien und Literatur in ein oder zwei Sprachen beschränkt, ist dabei eine Stärke der deutschen Geschichtswissenschaft, die dringend erhalten und ausgebaut werden muss.
Wie könnte vor diesem Hintergrund die beste aller möglichen Welten für die Geschichtswissenschaft aussehen? Wir befinden uns in einer hoffentlich gar nicht so fernen Zukunft: Institutionell sind alle universitären Strukturen effektiv demokratisiert. Studierende, Lehrende und sonstige Mitarbeitende können sich gleichberechtigt in den Gremien engagieren, Lehrstühle gibt es nicht mehr, nur noch Departmentstrukturen, zwei Drittel des Lehrpersonals sind fest angestellt. Zwischen Lehre und Forschung wird ein gesunder Ausgleich geschaffen. Forschungsergebnisse werden der Öffentlichkeit über OpenAccess für alle kostenfrei zur Verfügung gestellt. Es gibt genügend Mittel für eine zeitgemäße digitale Infrastruktur, die von professionellen Mitarbeitenden bereitgestellt wird und für Lehre, Forschung und Wissenschaftskommunikation gleichermaßen ohne große Hürden genutzt werden kann. Digitale Medien und Publikationen haben sich im Fach gleichberechtigt zu traditionellen Papierformen etabliert. Digitale Werkzeuge und ihre Beherrschung sind selbstverständliche Bestandteile des Studiums geworden, ermöglicht und unterstützt durch die vorhandene Infrastruktur und das technische Personal.
Auf dieser Grundlage haben Historiker*innen die Möglichkeit, sich technologisch unterstützen zu lassen, ohne von der Technik beherrscht zu werden. Mit und an digitalisierten Materialien zu forschen, ganz gleich, ob Manuskript, Bild, oder Druck, ist selbstverständlich geworden: OCR transkribiert die Dokumente, KI-Einsatz automatisiert Verschlagwortung, Named Entity Recognition, die Anreicherung mit Metadaten und die Umwandlung in alle notwendigen Datenformate zur Weiterverarbeitung. Historiker*innen können sich also dem widmen, was sie besser können als die Maschine: kritische Fragen an das historische Material stellen und Interpretationen daraus gewinnen. Nur auf einer viel breiteren Grundlage als zuvor, und befreit von vieler zwar wichtiger und unverzichtbarer, aber auch ermüdender und zeitraubender Grundlagenarbeit. Mit dem selbstverständlichen Einsatz digitaler Werkzeuge und digitaler Publikationsformate ergeben sich neue und breite Spielräume für historisches Arbeiten, die genutzt werden können und müssen, um den öffentlichen Raum wieder zu bespielen. Diese Spielräume würde ich gern nutzen, um historische Simulationen zu entwickeln, die ihren Namen wirklich verdienen. Die also Werkzeuge sind, die Historiker*innen dabei helfen, Plausibilitäten und Verläufe zu postulieren, zu prüfen und so darzustellen, dass ihre Ergebnisse transparent und nachprüfbar vorliegen. Dafür müssten simulative Umgebungen entwickelt werden, die ähnlich wie in Digitalen Spielen von heute, aber mit viel größerer Detailschärfe und Prozessgenauigkeit, unsere Annahmen darüber, wie Geschichte sich vollzieht, wie Ereignisse aufeinander und auseinander folgen und was historische Kausalität eigentlich ist, dynamisch modellieren können. Und die möglichen Verläufe und die für sie relevanten Faktoren auf diesen Grundlagen so ausweisen, dass sie für die weitere historische Arbeit genutzt werden können, als Hypothesen, als Interpretationshilfen oder als Plausibilitätsargumente.
Prinzipiell wäre ein solches Vorhaben heute schon möglich. Es scheitert aber einerseits an der mangelnden finanziellen Ausstattung, dem fehlenden Willen (und der Möglichkeit), im nötigen Rahmen mit den Kolleg*innen auf der technischen Seite zusammenzuarbeiten, und an der kaum vorhandenen Bereitschaft, die nur sehr nebulös und schwammig formulierten Annahmen darüber, wie sich Geschichte tatsächlich vollzieht, in eine dafür geeignete Form zu bringen. Oder in viele solcher Formen. Hier muss es heißen: Mehr Theorie wagen! Denn solche simulativen Umgebungen könnten ja ganz verschiedene Annahmen über Zusammenhänge und Faktoren, deren Wirken und Gewicht, über menschliche Handlungsfreiheit und strukturelle Bedingtheit, Kausalitäten und Pfadabhängigkeiten darstellen. Und damit dann auch eine Plattform bieten, viel fokussierter darüber zu diskutieren, was wir eigentlich sagen wollen, wenn wir in historischen Erklärungen kausal argumentieren. Und eine weitgehend enthierarchisierte und von strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen befreite Geschichtswissenschaft würde den besten Rahmen dafür bereitstellen, mit einer solchen Diskussion auch wirklich einmal anzufangen, ohne den großen Narrativen der (wirklich oder vermeintlich) großen Geister wenigstens implizit den Vorrang einräumen zu müssen. Und so auch den Weg dazu öffnen, als Fach wieder echte Impulse für die gesellschaftliche Selbstreflektion zu liefern.