Nach Wilhelm Dilthey ist die vornehmliche Aufgabe der Geisteswissenschaften das Verstehen. Anders als die Naturwissenschaften, denen es um das Erklären ginge, sei beispielsweise einer geisteswissenschaftlichen Disziplin wie der Historie daran gelegen, mittels der Methode der Hermeneutik die Lebenswirklichkeit des Menschen über das Erleben, den Ausdruck und das Verstehen zu vermitteln. Das klang nicht nur im 19. Jahrhundert nach viel Theorie mit metaphysischem Widerhall. Heute, im 21. Jahrhundert, kommt auf die Geisteswissenschaften eine neue Herausforderung zu: das Digitale. Wie verhalten sich zum Beispiel das Digitale und die Geschichte zueinander? Ist ein Zusammenspiel im Kontext einer digitalen Hermeneutik denkbar? Der Historiker Prof. Dr. Andreas Fikkers von der Universität Luxemburg und Direktor des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History ist davon überzeugt, dass Diltheys hermeneutischer Ansatz sich auch auf die digitale Welt übertragen lässt, sofern man den Schwerpunkt von der Theorie auf die Praxis verlegt. Entscheidend sei für die digitale Geschichtswissenschaft das Verstehen, vor allem das Verstehen der Werkzeuge, des Materials, der Technologie und der Infrastruktur, mit denen Historiker und Historikerinnen heute arbeiten. Wie das zu verstehen ist, davon handelt dieser Vortrag.
Kölner Vorträge zur Neueren und Neuesten Geschichte im Sommersemester 2019:
Die Historie und das Digitale. Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert
Die Geschichtswissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten viele “turns” erlebt. Sie haben zu einer grundlegenden Neuperspektivierung des Verständnisses von “Geschichte” geführt. Neben der Erweiterung von Quellentypen, Fragestellungen und Gegenständen ist die Reflexion auf die eigenen Quellen und den Konstruktions- wie Repräsentationscharakter von Geschichte als Wissenschaft deutlich gestärkt worden.
Wie reiht sich hier der “digital turn” ein, der sowohl in Forschungszugängen und Publikationsformen wie in wissenschaftlicher Lehre und Kommunikation oder der öffentlichen Repräsentation von Geschichte bereits Realität ist? Was bedeutet der Einzug digitaler Forschungstools in die Geschichtswissenschaft für deren Selbstverständnis und Arbeitsmethoden? Haben sie, wie manche es befürchten, andere erhoffen, ein Potenzial, um nicht nur disziplinäre Grenzen zu perforieren, sondern auch neue Forschungsfragen zu erschließen? Birgt dies die Gefahr einer Spaltung in jene, die sich die zunehmend komplexen neuen Quellenformate, Auswertungsformen und Repräsentationstechniken aneignen, und jenen, die sich den traditionellen Fragestellungen, Methoden und Interpretationsformen verbunden sehen?
Während einige die digitale Herausforderung durch einen erweiterten Methodenkanon einhegen wollen, sehen andere in ihr den entscheidenden Schritt zu einer längst überfälligen Abkehr von etablierten historischen Arbeitsmethoden. So muss diskutiert werden, ob das „Digitale“ in seinen vielen Facetten eine besondere Dimension und Transformation darstellt und wie grundlegend darüber nachzudenken ist, was Geschichte im Zeitalter des digitalen Wandels eigentlich und was eigentlich Geschichte ist.
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