Der Begriff der Masse ist ein Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts. Verbunden sind mit ihm Kollektivsingulare wie beispielsweise Klasse, Nation und Volk. Bilder von Massen in Städten oder politischen Massenkundgebungen prägen die Ikonographie dieser Zeit. Im Gegensatz dazu stehen die Konzepte Individualität bzw. Individuum, deren Untergang in Deutschland parallel zum Untergang der Weimarer Republik verlaufen sei. Viele zeitgenössische Intellektuelle von rechts wie von links stellten mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus diesen Zusammenhang her und prägten seitdem diese vermeintliche Korrelation. Der Historiker Dr. Moritz Föllmer hat Zweifel daran. Vor allem die Klagen eben dieser Intellektuellen über ein Übermaß an Individualität und krankhafter Selbstinszenierung machen ihn stutzig. Er fragt: Wie passen diese Klagen mit der These vom Untergang des Individuums zusammen? In seinem Vortrag entwirft Moritz Föllmer entlang von zahlreichen Egodokumenten und Zeitungsanalysen ein anderes Bild der Weimarer Republik.
Kölner Vorträge zur Neueren und Neuesten Geschichte im Wintersemester 2018/19:
Facetten der Weimarer Republik
Die derzeit zu erlebende Erosion demokratischer Politikformen, der weltweite Aufstieg des Rechtspopulismus und eine mediengetriebene Ressentiment(un)kultur hat das Interesse an der Geschichte der Weimarer Republik wieder aufleben lassen. 100 Jahre nach der Gründung der ersten deutschen Demokratie fragen zahlreiche Beiträge in Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk danach, wieviel der meist defizitär wahrgenommenen „Weimarer Verhältnisse“ in der Bundesrepublik, wenn nicht sogar im europäischen oder weltweiten Politiktheater der Gegenwart stecken. Dagegen stellt die von Prof. Ute Planert an der Universität zu Köln organisierte Vorlesungsreihe „Facetten der Weimarer Republik“ Aspekte in den Vordergrund, die sich aus den Ergebnissen aktueller historischer Forschung speisen.
Prof. Gabriele Lingelbach (Kiel/München) ordnet die Weimarer Republik in eine Globalgeschichte der Zwischenkriegszeit ein und beleuchtet die weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen eines Staates, der sonst eher aus der Binnenperspektive betrachtet wird. Dr. Moritz Föllmer (Amsterdam) durchbricht die schon zeitgenössische Fokussierung auf Phänomene der Massenkultur und Massengesellschaft und lotet demgegenüber den Stellenwert des Individuums aus. Abschließend setzt Prof. Andreas Wirsching, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, der gängigen Untergangsrhetorik eine differenziertere Perspektive entgegen und fragt nach den Möglichkeiten einer demokratischen Zukunft für die Weimarer Republik.