Ich studierte Geschichte, Literaturwissenschaften und Jura. Eine Professur erschien damals ähnlich realistisch wie eine Stelle als Astronautin. Was folgte, waren viele kleine Schritte, die letztlich zu einer Professur führten (aber auch ganz andere Wege und leider auch Sackgassen hätten eröffnen können): Promotion in Leipzig, Fellowships in Stanford, Eigene Stelle, diverse Kurzstipendien, Organisationsjob, mehrjährige Professurvertretung in Münster, unbefristete Stelle als lecturer in Loughbourough/UK, Habilitation in Leipzig, Exzellenzprofessur auf Zeit in Bremen, schließlich dann Ruf nach Kiel. Meine Forschungsthemen sind u.a. Kindheitsgeschichte, imperial history, Fotografiegeschichte, all das mit Blick auf Osteuropa.
Utopia, nicht ganz unrealistisch. Überlegungen zum künftigen Umgang mit dem Problem des Machtmissbrauchs
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Martina Winkler
Ich weiß nicht, ob es eine Universität ganz ohne Machtmissbrauch geben kann. Wo es Macht gibt, kann sie auch missbraucht werden. Und paradoxerweise sind Institutionen immer dann besonders gefährdet, Machtmissbrauch zu erleben und zu dulden, wenn sie diesen Umstand leugnen. Also seien wir ehrlich: Die Universität ist eine Institution, die von Hierarchien bestimmt ist und immer sein wird, mehr wohl als so manche anderen Betriebe oder Behörden. Umso wichtiger ist es, dass wir über diese Hierarchien und die durch sie geschaffenen Machtverhältnisse gründlich nachdenken, sie reflektieren und vor allem kontrollieren. Ich wünsche mir eine Universität, die genau das tut. In der die Leitung und alle (!) Mitarbeiter*innen Machtverhältnisse nicht einfach als gegeben und unverrückbar hinnehmen, sondern diskutieren und überprüfen. Und in der Machtmissbrauch nicht als normal und unveränderbar hingenommen, sondern benannt und bekämpft wird.
Eine solche Universität würde gleich auf mehreren Ebenen deutlich anders aussehen als die, die wir heute kennen.
Am wichtigsten ist dabei wohl die Art und Weise, in der wir miteinander arbeiten. An der Universität, die ich mir wünsche, ist der Respekt, mit dem wir einander begegnen, nicht abhängig vom Arbeitsbereich (ob Forschung, Lehre, Interessensvertretung oder Verwaltung), von der Karrierephase, von akademischen Titeln oder gar von der Gehaltsstufe.
Wenn wir die Universität tatsächlich als Lernraum wahrnehmen, weshalb dann nicht für alle? Studierende lernen von Dozierenden, und Promovierende lernen von Professor*innen, klar, aber wo ist die Anerkennung für die umgekehrte Richtung? Gerade die aktuellen Veränderungen in Forschung, Lehre und Kommunikation machen überdeutlich, wie wichtig der sogenannte „Nachwuchs“ ist und wie unsinnig seine ständige Infantilisierung. Innovative Lehre kommt, zumindest in meiner Erfahrung, zum größten Teil von Promovierenden und Postdocs. Ebenso das Engagement in der Frage, wie wir mit KI und anderen technologischen Entwicklungen umgehen können. Wissenschaftskommunikation profitiert sicher auch von klassischen öffentlichen Vorträgen, vor allem doch aber von neuen Formaten wie Podcasts, von der Nutzung sozialer Medien und der Organisation von science-slams. Und meist sind es Forschende in früheren Karrierephasen, die hier Zeit und Wissen investieren und die Universität als Ganze damit voranbringen. Als letzten Punkt dieser natürlich unvollständigen Liste möchte ich die Wissenschaftspolitik nennen: Engagiertere, öffentlichkeitswirksamere und innovativere Hochschulpolitik als die unter dem #IchBinHanna versammelte sehe ich nirgendwo. Es ist kein Zufall, dass die Professor*inneninitiative auf diesen Zug aufsprang und sich #ProfsfuerHanna nannte.
Und es ist leider auch kein Zufall, dass die #ProfsfuerHanna in der Politik deutlich mehr gehört wurden als das Original mit seinen vielen Modellen, Ideen, Kompetenzen. Hier spiegeln sich in erschreckender Weise die bestehenden hochschulinternen Strukturen. In einer demokratischen Universität hingegen wäre die Stimme entscheidend, nicht der Status dahinter. Dort wären Gremien paritätisch besetzt, Promovierende, Postdocs und Professor*innen würden miteinander sprechen, zugleich Studierenden eine wichtige Position zubilligen und vor allem nicht von vornherein eine konfrontative Politik des Gegeneinander erwarten. Machtpositionen müssten dabei nicht um jeden Preis verteidigt werden – ganz einfach, weil sie weniger ausgeprägt und damit weniger wichtig wären.
Denn was eine andere Universität natürlich auch braucht, sind umgestaltete, neu gedachte Machtstrukturen. Im Großen wie im eher Kleinen. Eine neue, bessere Universität bietet gute Arbeitsbedingungen für alle: ausreichend lange Arbeitsverträge, gute Perspektiven durch Aufstiegschancen und die Möglichkeit unbefristeter Tätigkeit für die Mehrheit der Promovierten. Diese Bedingungen sind durch ein faires Beschäftigungsrecht verankert, mit dem wissenschaftlich Arbeitenden dieselben Rechte zugebilligt werden wie allen anderen Arbeitnehmern in Deutschland. Ob es um Urlaub, das Recht auf Fortbildung, die Bewilligung und die Finanzierung (!) einer Konferenzteilnahme, die Möglichkeit zur Archivreise, die Weiterbeschäftigung oder auch einfach nur einen neuen Computer oder einen ergonomischen Stuhl geht – all diese Dinge sind für den/die Einzelne/n auf nachvollziehbare Weise zu beantragen und im Zweifelsfall auch einklagbar. Sie sind nicht abhängig vom Wohlwollen individueller Vorgesetzter. Die neue Universität ist ein transparentes bürokratisches System, das ohne Ansehen der Person und ihres Status entscheidet (was in einem modernen Rechtsstaat eigentlich selbstverständlich sein sollte).
Wissenschaftliches Arbeiten erfolgt im Team oder auch individuell; Unterstützung gibt es dabei für alle. Dazu gehören Mentor*innenprogramme insbesondere, aber nicht nur für Forschende in frühen Karrierephasen. Die Universität profitiert als Ganze davon, dass Forschungsarbeit, Schreibprozesse, Publikationsstrategien, das Schreiben von Anträgen, die Lehre und auch alle anderen Elemente wissenschaftlichen Arbeitens unterstützt und begleitet werden. Diese Unterstützung ist bewusst als Baukasten konzipiert: Wer sich Hilfe bei unterschiedlichen Personen sucht und Angebote kombiniert, wer seine Begleitung wechselt oder ergänzt, tut das Normale und steht nicht plötzlich allein, ohne Betreuung und verwaist da. Begleiter*innen sind keine Mütter oder Väter, die Loyalität, Treue oder Gegenleistungen einfordern können – sie erledigen einfach nur ihre Arbeit. Wissenschaftliche Arbeit wird so normalisiert. Sie inspiriert, fasziniert und macht Spaß, braucht aber weder Geniekult noch den richtigen „Stallgeruch“.
Die Strukturen sind damit offen. Die Universität orientiert sich in vieler Hinsicht am britischen Department-System und erweitert dieses: Nicht unhierarchisch, aber flexibel.[1] Die Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse (und damit die Machtstrukturen) sind entsprechend praktischen Notwendigkeiten verteilt und können bei Bedarf neu gestaltet werden. In Traditionen begründete und mit Prestige aufgeladene Machtbefugnisse, wie sie das klassische Lehrstuhlsystem (egal unter welcher Bezeichnung) kennt, gibt es nicht.
Gerade die Geistes- und Sozialwissenschaften, zu deren Hauptaufgabe die Analyse von Machtstrukturen gehört und die hervorragende Einsichten in die Vielfalt von Machtbeziehungen entwickelt haben, wenden dieses Wissen auch auf sich selbst an. Es ist selbstverständlich geworden, die räumlichen Gegebenheiten und deren Bedeutung zu analysieren, das eigene Verhalten mithilfe von Kategorien wie gender, class, race und disability zu reflektieren und die Arbeitsbedingungen des Wissenschaftsbetriebs, Pfadabhängigkeiten und die Bedeutung des Habitus kritisch zu betrachten. Abhängigkeiten und Privilegien werden als solche erkannt und ernst genommen, das Handeln danach ausgerichtet und affirmativ gestaltet. Nicht der oder die Machthabende entscheidet, sondern die Auswirkungen der Machtbeziehungen werden an der strukturell benachteiligten Partei gemessen. Dies ist übrigens kein Ergebnis einer generationsspezifischen Hypersensibilität, sondern entspricht dem im bürgerlichen Recht verankerten Schutz des Schwächeren. Mitarbeitende kennen ihre Rechte und verstehen und nutzen diese als „Inseln der Ermächtigung“ (nach Patricia Williams). Wer eine Praxis, eine Regelung oder eine bestimmte Äußerung als übergriffig empfindet, kann dies deutlich machen und dabei Verständnis erwarten. So bleibt es der Mitarbeiterin überlassen, ob sie auf das Angebot ihrer Vorgesetzten eingeht und das neue Projekt tatsächlich abends im Restaurant besprechen möchte oder ob sie die Atmosphäre des Büros vorzieht. Es ist ihre Entscheidung, die gilt.
Dies mag idealistisch, ja naiv klingen, und tatsächlich sollten wir uns nichts vormachen: Macht und Abhängigkeiten wird es nach wie vor geben, und auch Machtmissbrauch ist keineswegs auszuschließen. Deshalb braucht die Universität meiner Wünsche selbstverständlich neben den neuen Strukturen und der neuen Atmosphäre auch neue Beschwerde- und Kontrollinstanzen. Diese sind niedrigschwellig und transparent, mit juristisch und psychologisch geschulten Personen besetzt und so weit wie möglich von universitären Abhängigkeitsverhältnissen entfernt. Unabhängige externe Stellen sind jederzeit verfügbar; dennoch gibt es auch innerhalb der Universität Beratungsangebote. Das Suchen nach Rat und Unterstützung ist keine Odyssee. Das notwendige Wissen über Hilfsangebote ist selbstverständlich und weitverbreitet – auch bei denjenigen, die bisher das Glück hatten, nicht selbst betroffen zu sein. Ein Blick auf die Website der Universität oder eine Nachfrage bei Dozierenden klärt schnell, an wen sich Betroffene wenden können – die Instanzenkette ist klar und wird offen kommuniziert. Die Zuständigkeiten sind klar, die Beratenden entsprechend qualifiziert, und Gleichstellung und Konfliktlösung/Diskriminierungsberatung sind konzeptionell und institutionell voneinander getrennt. Die Beratung ist niedrigschwellig und normalisiert – Hilfe wird frühzeitig und nicht erst bei ins Unerträgliche gestiegenem Leidensdruck in Anspruch genommen.
Nach dem Herunterschreiben dieser Gedanken wirken sie gar nicht mehr so utopisch auf mich. Eine bessere Universität braucht keine „neuen Menschen“, sie braucht nur neue Strukturen. Sie ist machbar.