Ich habe an der Universität Hamburg Geschichte mit den Schwerpunkten Nationalsozialismus, jüdischer Geschichte und Public History studiert. Aktuell bin ich wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität im Projekt „Mapping des Kulturerbes: Deutsche emigrierte Rabbiner und ihr Vermächtnis“. Auch im Zuge meiner Promotion beschäftige ich mich mit der Frage, wer und wie Geschichte in unserer Gesellschaft schreibt. Auf meinen Social-Media-Kanälen @klios_spiegel betreibe ich zudem Wissenschaftskommunikation und erkläre, was Historiker*innen wirklich über die Vergangenheit sagen können und was das für unsere Gesellschaft bedeutet.
Mehr Wissenschaft wagen! – Wie ich mir eine andere Wissenschaftskommunikation der Geschichtswissenschaft vorstelle
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Tabea Henn
Wenn ich an die gegenwärtige, deutsche Geschichtswissenschaft denke, entfährt mir ein langgezogenes „Hmm“. Auf der einen Seite haben wir allein durch das Internet und den Sozialen Medien eine schier unendliche Masse an Beiträgen mit historischem Inhalt und geschichtliche Dokumentationen oder Fiktionen sind aus den Fernseh- und Streamingsendern nicht wegzudenken.[1] Auf der anderen Seite kann die Geschichtswissenschaft davon kaum profitieren. Die allermeisten dieser Beiträge werden nicht von Historiker*innen erstellt. Auch sonst sieht es mit der Beteiligung der Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft dünn aus. Schulbücher hinken der Forschung hinterher und rund 18% der Deutschen glauben, ihre Vorfahren hätten Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus geholfen oder waren selbst Opfer des Regimes.[2] Das widerspricht allen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen und stimmt schlichtweg nicht! Sowieso wird Geisteswissenschaften gerne ihre Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Frei nach dem Motto: „Ich kann selbst Lesen und Schreiben, wozu brauche ich Menschen, die mir das erklären?“ Gemeinsam mit der Archäologie mag Geschichte im Gegensatz zu anderen Geisteswissenschaften thematisch in der Gesellschaft und den Medien stark vertreten sein, aber die Geschichtswissenschaft ist es deswegen noch lange nicht.
Was wünsche ich mir für und von der Geschichtswissenschaft für die Zukunft?
Weniger Storytelling und Meistererzählungen!
Geschichte und Geschichten passt vom Namen wie die Faust aufs Auge. Wir Menschen lieben Geschichten und nicht ohne Grund ist Storytelling das Mittel der Wahl in der Wissenschaftskommunikation. Damit ködert man die Leute und wir sollten auch nicht aufhören, Geschichten zu erzählen … aber bitte nicht nur!
Ein Großteil der geschichtswissenschaftlichen Kommunikation funktioniert nach dem Prinzip: „Irgendwann ist irgendwas mal passiert.“ Das sind wunderbare und spannende Geschichten, die auch ich mir gerne anhöre, doch sie verschleiern den Forschungsprozess. Wir Historiker*innen sind – überspitzt formuliert – keine Märchenerzähler*innen oder Detektive, welche 1:1 den Inhalt einer historischen Quelle wiedergeben!
Wo finden Forschungsfragen, Quellenkritik und Kontextualisierungen ihren Platz? Was ist mit Unsicherheiten, Widersprüchen und Forschungsdiskussionen? Lasst uns nicht nur Geschichten erzählen, sondern auch die anderen Seiten unserer Wissenschaft zeigen!
Mehr Wissenschaft wagen!
Wie kommen Historiker*innen zu ihren Forschungsergebnissen? Was ist Quellenkritik und wieso gibt es Geschichte nur durch den Filter der Gegenwart? Das lernen Studierende bereits in den ersten Semestern. Aber kaum ein Mensch außerhalb der Geschichtswissenschaft könnte diese Fragen beantworten. Historiker*innen können nicht sagen, wie es wirklich in der Vergangenheit war, sondern aus Quellen interpretieren, wie es gewesen sein könnte. Wagen wir also mehr Wissenschaft und verpacken das Ergebnis nicht nur in einer netten Geschichte, sondern erklären auch den Weg dahin. In der Wissenschaftskommunikation wird immer mehr auch die Wissenschaft an sich und ihre Forschungsmethoden erläutert. In Zeiten von Fake News und Geschichtsrevisionismus sollten sich Historiker*innen ebenfalls an diese Herangehensweise halten. Wenn wir aber unser Fach mehr im Konjunktiv kommunizieren, nimmt man uns dann nicht noch weniger als Wissenschaft ernst? Nein! Wenn wir die Möglichkeiten sowie die Grenzen unserer Disziplin aufzeigen, stärkt dies im Gegenteil das Vertrauen in unsere Expertise!
Expertise unseres Faches nicht anderen Wissenschaften überlassen!
Wenn ich mir die Kommunikation anderer Wissenschaften – insbesondere in den Naturwissenschaften – anschaue, fällt immer wieder auf, dass diese auch historische Themen behandeln. Grundsätzlich finde ich es großartig, wenn sich andere Wissenschaftler*innen für Geschichte interessieren und die Geschichte der Naturwissenschaften ist voll von Sexismus und Rassismus. Dies aufzuzeigen und zu kommunizieren ist richtig und wichtig! Häufig genug begegnen mir dabei aber veraltete bis hin zu problematischen Narrativen. Meine Lieblingsmeistererzählung „Im Mittelalter hat die Kirche das Wissen unterdrückt und es gab keinen wissenschaftlichen Fortschritt“ ist einfach nicht totzukriegen. Unser Universitätswesen hat seine Ursprünge in dieser Epoche und Klöster waren der Ort an dem Wissen Jahrhunderte erweitert und weitergegeben wurde. Darum, liebe Wissenschaftler*innen anderer Disziplinen, redet mit uns Historiker*innen und lest unsere Forschungsarbeiten. Bitte nicht nur auf Wikipedia und einem gefühlten Wissen über eine Epoche vertrauen! Liebe Historiker*innen, bietet euer Wissen an und positioniert euch mit eurer Expertise in der Öffentlichkeit. Schreitet auch ein, wenn ihr veraltete und problematische Narrative über Geschichte mitbekommt. Unsere Wissenschaften sind nicht weniger wert, nur weil am Ende keine Formeln und Naturgesetze herauskommen!
Mehr Citizen Science und Bürgerpartizipation!
Mein Text soll aber nicht als Plädoyer verstanden werden, dass historische Inhalte nur noch von Historiker*innen erstellt werden sollen. Ohnehin wäre es nicht möglich, dies durchzusetzen und widerspräche auch der demokratischen Grundidee des Internets und Social Media, dass jede Person zum Sender werden kann. Die Zukunft der Geschichtswissenschaft sehe ich im partizipativen Bürger*innendialog!
Reden wir mehr mit den Menschen außerhalb der Wissenschaft: Was wollen sie über Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch der Zukunft wissen? Welche historischen Quellen lauern noch in den Schubladen, die sonst niemand aus der Geschichtswissenschaft je zu Gesicht bekommen würde? Und welche (anderen) Geschichten können wir gemeinsam mit ihnen schreiben?
Literaturverzeichnis:
MEMO Deutschland - repräsentative Befragung von 1.000 Personen im Alter von 16 bis 92 Jahren, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, Februar 2018.
Jason Steinhauer: History Disrupted. How Social Media and the World Wide Web Have Changed the Past, Cham 2022.