Zeitliche Distanz bedeutet nicht unbedingt emotionale Distanz. Seit dem Workshop zur europäischen Identität in der Villa Vigoni sind nun vier Monate vergangen und noch immer fällt es mir schwer, mich von diesem Gegenstand zu distanzieren und teilweise zurückzugeben, was die Diskussion mit Intellektuellen aus Frankreich, Italien, Deutschland und Polen bei mir hinterlassen hat. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Erstens bedeutet das Nachdenken über die europäische Identität, dass man sich mit einem kontroversen Gegenstand befasst, der weithin diskutiert und kritisiert wurde. Unabhängig von den Meinungen anderer bedeutet der Umgang mit einem solchen Objekt, sich mit sich selbst, der eigenen Identität und den eigenen Erfahrungen auseinander zu setzen, um zu verstehen, ob und wie Europa in das Mosaik unseres Lebens passt.
Europäische Identität zwischen Grenzen und Möglichkeiten
Essay zum Villa Vigoni-Workshop "Europäische kulturelle Identität"
Meine Überlegungen orientieren sich insbesondere an einer sehr spezifischen Forschungsfrage: Was ist mit europäischer Identität gemeint? Ich werde versuchen, diese sokratische Frage von einem philosophischen Standpunkt aus zu beantworten, weil sie mich am meisten definiert. In meiner Untersuchung werde ich versuchen, die theoretische Abstraktion mit der konkreten Erfahrung zu verbinden, die diesem Konzept Substanz verleiht und es mit persönlichen Bedeutungen füllt. Die Methode, die ich anwenden werde, besteht darin, die kulturelle Bedeutung des Begriffs hervorzuheben, die sich von der institutionellen und politischen Bedeutung unterscheidet. Mögliche Verflechtungen zwischen den drei Hauptbedeutungen werden den analytischen Charakter des Diskurses nicht untergraben, sondern allenfalls weitere Fragen aufwerfen, die in mehr oder weniger naher Zukunft untersucht werden sollen.
Chus Pato: Europe? Yes, Europe teems with peoples. We never take leave of peoples
A people — humanity — is a being that arises just like rivers do. It rises and, because it can rise, it can fall. It is indestructible, that is, can be sacrificed a million times over, but never destroyed. A people is unforgettable, that is, a living thing that does not need us as individuals in order to exist. It is never on the side of power, whatever the power; it is on the side of potential, of possibility, and answers to that possibility. It is not to be confused with its representatives nor with those who govern it, because it is not a representation, it is a presence on Earth.
(…) A people is an intensity not to be confused with a state, or nation-state, or any administrative division. It’s a rhizome and grows and extends without taking any bureaucratic obstacle into account. A people always lacks papers. Institutions, any kind of institution, don’t thrill it, but it knows their fair price. A humanity is, presents itself, overthrows, can fall, is contemporary, moves forward.[1]
Anders als Institutionen und territoriale Grenzen überwindet die Kultur das, was Chus Pato in seinem Offenen Brief an Europa als "bürokratische Hindernisse" bezeichnet. Völker, die als durch ein gemeinsames Gefühl geeinte Ensembles verstanden werden, werden mit der Metapher eines Rhizoms beschrieben, einem immerwährenden Reservoir des Lebens, das sich unterirdisch entlang horizontaler Verbindungen entwickelt. Völker sind wie ein Rhizom, weil sie keine Hierarchien kennen, sondern im Gegenteil von unten nach oben wachsen, durch einen Schub, der von Wurzeln genährt wird, die in einen gemeinsamen Boden sinken, dem territoriale Barrieren fremd sind. Dieser Boden, den Husserl Umwelt nennt, die Welt des Lebens, liefert die richtige Energie für die raum-zeitliche Kontinuität der Völker, die trotz zufälliger Ereignisse immer gegenwärtig sind. Ihr Fall ist nur vorübergehend, denn als Lebensströme sind sie dazu bestimmt, wieder aufzusteigen. Ihr unaufhörliches Fließen ist sowohl eine Möglichkeit als auch die Übernahme eines Risikos, nämlich das des Absturzes. Aber gerade weil sie wissen, dass jeder Sturz nur vorübergehend ist, ist ihre Entscheidung für den Fluss rational. Das ist es wert.
Interessanterweise spricht Pato von "Völkern" im Plural, den konstituierenden Einheiten Europas, verstanden als ihr gemeinsamer Horizont. Ein Europa, das nicht durch bestimmte Werte definiert ist, sondern ein unscharfes Konzept bleibt, das sich ständig verändert. Gerade wegen ihrer Unbestimmtheit ist diese Idee von Europa einladend und tolerant, denn sie ist es gewohnt, in ihrem Inneren ein Gewimmel von Völkern aufzunehmen, die sie auf ihrem Weg mit unterschiedlichen Erfahrungen bereichern.
Aus der Interpretation von Patos poetischer Sprache ergibt sich meine Vorstellung davon, was Europa ist/sein sollte. Die Bewegung der Völker ist die Essenz meines europäischen Wesens. Die Bewegungsfreiheit, meine Reisen, bei denen ich mich zwar an verschiedenen Orten aufhalte, aber einen gemeinsamen Nenner finde, durch den ich mich zu Hause fühle. Die urbane Kunst eines jeden Ortes auf dem 'alten Kontinent' erzählt mir seine Geschichte, in der ein Teil meines Wissens konkret wird. Indem ich mich darauf einlasse, tritt die Vergangenheit in einen Dialog mit der Gegenwart, mit dem Ich, das ich bin, und mit der Zukunft, mit dem Ich, das sein wird, und schafft eine emotionale Bindung, die es mir ermöglicht, Orte zu bewohnen, anstatt sie einfach nur zu passieren. So sammle ich Schritt für Schritt Erfahrungen, die ich nicht einfach als verblasste Erinnerungen behalte, sondern als integralen Bestandteil einer Erzählung, nämlich der meiner europäischen Identität.
Es gibt also keine europäische Identität a priori, sondern sie ist das Ergebnis persönlicher Begegnungen mit dem, was man als Teil Europas anerkennt. In diesem Sinne kann man sagen, dass es sich per Definition um einen Prozess der Anerkennung zwischen dem Individuum und einem bedeutenden kulturellen Horizont handelt. In der Geschichte hat Europa als gemeinsames kulturelles Projekt, noch vor einem politischen und institutionellen Projekt, bewusst die Grundlagen für einen freien Raum geschaffen, in dem sich verschiedene Sprachen und Kulturen treffen können. Während des Workshops haben wir uns gemeinsam mit den anderen Teilnehmern gefragt, wie inklusiv dieser Raum tatsächlich ist. In dieser Hinsicht sind einige Fragen problematisch, was angesichts des Konflikts in der Ukraine heute noch mehr gilt. Gibt es eine Grenze dafür, dass wir uns als aktiver Teil eines gemeinsamen Projekts begreifen? Wenn ja, wo liegt diese Grenze? Welches sind die Bedingungen, die sie definieren?
Hier ist also die kulturelle Perspektive mit der politischen und institutionellen verwoben, denn aus normativer Sicht scheinen die Bedingungen für ein kulturelles Projekt des Freihandels sehr präzise politische Werte zu sein. Demokratie und bürgerliche Freiheiten, die nicht zufällig auch zu den Voraussetzungen für den Beitritt zur Europäischen Union gehören. Diese Überschneidung der Pläne ist kein Zufall, denn was seit jeher die Errichtung einer sich immer weiter ausdehnenden politischen Union vorantreibt, ist in erster Linie eine gemeinsame kulturelle Idee.
An diesem Punkt stößt der Diskurs, der mit den Worten Patos eröffnet wurde und sich an der Möglichkeit orientiert, jedoch an seine größte Grenze, nämlich die Abgrenzung dessen, was wir unter Europa verstehen. In der Vergangenheit, während des Kalten Krieges, war Europa aufgrund einer ganz bestimmten geopolitischen Dynamik durch eine imaginäre Linie, die Churchill 1946 den Eisernen Vorhang nannte, in zwei Hälften geteilt. Diese Aufteilung konnte nicht endgültig sein, denn ihr lag die Idee eines gemeinsamen Raums zugrunde, der nicht dauerhaft geteilt werden konnte. Dieser Raum war in erster Linie kulturell, aber wie wir wissen, braucht die Kultur bürgerliche Freiheiten, um sich ausdrücken zu können. Der Fall der Berliner Mauer ist eines der konkretesten Zeugnisse dafür, wie Völker fallen können, ja, aber nur, um sich wieder zu erheben und in der raumzeitlichen Kontinuität Europas wieder zu fließen.
So kehrt das Bild eines sich horizontal ausbreitenden Wurzelstocks in der Schlussfolgerung wieder, um metaphorisch die Verbindungen darzustellen, die entfernte und unterschiedliche Völker vereinen. Jenseits vereinfachender Dichotomien, die oft das Ergebnis einer Rhetorik sind, die sich auf ein bestimmtes geopolitisches Projekt stützt, ist dieser Antrieb von unten ein echter Ausdruck der europäischen Identität, die eben als gemeinsamer Horizont verstanden wird. Wenn wir unseren Diskurs auf den Krieg in der Ukraine beziehen, der auf europäischem Boden geführt wird, stellen sich drängende Fragen, auf die es keine unmittelbare Antwort gibt. Wie hat sich unsere Vorstellung von Europa in der Zeit nach dem Kalten Krieg verändert, als die Europäische Union schrittweise nach Osten erweitert und institutionell gestärkt wurde? Welche Auswirkungen hat insbesondere die institutionelle Ebene auf die kulturelle Ebene?
Diese Fragen sind offen, und ich hoffe, dass wir in Zukunft Gelegenheiten finden werden, dieses Thema zu erörtern, in der Hoffnung, dass wir durch den interkulturellen Dialog einen Weg finden können, um willkürliche Grenzen zu überwinden und den Antrieb zu erfassen, der unsere Völker bewegt. Unterschiedlich, aber vereint.
Für die italienische Übersetzung: https://www.layoutmagazine.it/chus-pato-lettera-aperta-europa/