Im April 2022 trafen sich junge Nachwuchswissenschaftler:innen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Polen zu einer Klausurtagung in der Villa Vigoni am Comer See, um zusammen über die Existenz und die Gestalt einer europäischen kulturellen Identität zu sprechen. Das Treffen und unsere Diskussionen waren dabei maßgeblich vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geprägt, der – zumindest im deutschsprachigen Diskurs – eine Zäsur für das Friedensprojekt Europa darstellt. Gemäß diesem bisherigen Diskurs habe Europa aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gelernt, fortan auf wirtschaftliche Kooperationen gesetzt und ließe sich seither mit Frieden und Wohlstand assoziieren. Diese zwei Attribute hätten zunächst für den westlichen Teil Europas gegolten. Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts konnten sich dann Frieden und Wohlstand vollends bis in die 2010er Jahre in ganz Europa ausbreiten – oder etwa doch nicht?
Europa: Frieden, Wohlstand und eine marginalisierte östliche Perspektive
Essay zum Villa Vigoni-Workshop "Europäische kulturelle Identität"
Dieses Narrativ – so schön, hoffnungsvoll und auch passend es für einige (West-)Europäer:innen klingen mag – verkennt jedoch die gesamteuropäische Situation, da es insbesondere ost-, ostmittel- und südosteuropäische Erfahrungen ausblendet. Aus einer östlichen Perspektive ist Europa als Friedens- und Wohlstandsmarker nicht erst seit dem Februar 2022 in Gefahr. Eher ließe sich fragen, ob diese Vorstellung jemals Realität oder nicht doch eher unerreichtes Wunschziel war?
Frieden in Europa?
Der russische Angriff vom 24. Februar 2022 ist weder der Beginn kriegerischer Auseinandersetzungen in der Ukraine (diese begannen 2014), noch handelt es sich hierbei um den ersten Krieg, der Europa nach 1945 erschütterte. Hier sind die sogenannten Jugoslawienkriege zu nennen, die zwischen 1991 und 2001 das südöstliche Europa in Schutt und Asche legten und neue Ländergrenzen hervorgebracht haben. Entscheidend bei der Frage nach Frieden in Europa ist zudem die Grenzziehung: Je nach geografischer Definition lassen sich die Tschetschenienkriege, der Konflikt um Transnistrien, der Georgienkrieg sowie die Kriege und Konflikte um Bergkarabach ebenfalls als nicht-friedliche Episoden auf dem europäischen Kontinent klassifizieren.
Frieden als gegebenen Zustand seit 1945 zu sehen, verkennt die leidvollen Erfahrungen, die diese Kriege mit sich gebracht haben. Dabei deuten sich mentale Grenzziehungen an, die unweigerlich zu den Fragen führen: Was wird überhaupt als Europa gesehen und welche Erfahrungen werden zu europäischen Erfahrungen erklärt?
Wohlstand in Europa?
Auch die Annahme der Etablierung von Wohlstand in Europa nach 1990 mag aus einer ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Perspektive etwas makaber klingen. Der Übergang von sozialistischer Planwirtschaft zu einer neoliberalen Marktwirtschaft war in vielen Ländern keineswegs einfach. Die Transformationszeit der 1990er Jahre war geprägt von Unsicherheit und Arbeitslosigkeit und brachte weitgehende soziale Veränderungen mit sich, wie beispielsweise bis dato unbekannte Ungleichheiten in den Gesellschaften im Sinne einer sich auftuenden Schere zwischen Arm und Reich.
Oft wird behauptet, es habe sich seitdem vieles gebessert, vor allem in denjenigen Ländern, die nach 2004 der Europäischen Union beigetreten sind. Es mag stimmen, dass das Wohlstandsniveau im östlichen Europa gestiegen ist, ohne jedoch an das Niveau der westeuropäischen Partnerländer heranzukommen. Statt beispielsweise einer Angleichung der Löhne kam es zu einer bis heute andauernden Migrationsbewegung von Ost nach West (sowie Süd nach Nord). So zeigte nicht zuletzt die Corona-Pandemie mit Grenzschließungen als Maßnahme, wie stark beispielsweise Deutschland auf Arbeiter:innen aus dem östlichen Europa angewiesen ist. Personen mit zum Teil hohen Bildungsabschlüssen entscheiden sich bis heute aufgrund gravierender Einkommensunterschiede oder mangelnder Perspektiven dafür, im westeuropäischen Ausland im Niedriglohnsektor unter prekären Bedingungen zu arbeiten, was ein weiterer Indikator für die ungleiche Verteilung von Wohlstand in Europa ist.
Gleichheit in Europa?
Wie marginalisiert die östliche Perspektive ist, zeigt sich aber nicht nur anhand wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer Aspekte, sondern spiegelt sich auch darin wider, wie über das östliche Europa gesprochen wird. So warnten unter anderem Polen und die baltischen Staaten seit langem vor einer russischen Bedrohung und schätzten diese – im Rückblick betrachtet – besser ein als westliche Expert:innen. Statt jedoch diese Perspektiven anzuerkennen und den Ländern eine gewisse Expertise einzuräumen, die sich unter anderem aus der historischen Erfahrung der Staaten mit Russland ergibt, wurden Stimmen laut, die jenen Hysterie und voreiliges Handeln vorwarfen. Gleichsam äußerten sich unterschiedliche (westliche) Beobachter:innen und versuchten diesen Ländern sowie der Ukraine zu erklären, dass sich die russischen Handlungen lediglich auf eine Expansion der NATO zurückführen ließen und somit geopolitische Fragen im Fokus stünden.
Dass Russland weniger aus einer Defensive heraus handelt, sondern es vielmehr um imperiale Machtbestrebungen geht, die sich bisweilen in genozidalen Aussagen von russischen Politiker:innen und Personen des öffentlichen Lebens widerspiegeln, scheint mehr und mehr Einzug in die deutschsprachige Debatte gehalten zu haben. Nichtsdestotrotz etablierte sich in den Kreisen ostmittel- und osteuropäischer Intellektueller der Begriff „Westsplaining“, zusammengesetzt aus „West“ und „explaining“. Dieser beschreibt die Haltung westlicher Beobachter:innen, diejenigen belehren zu wollen, die eigentlich mehr Expertise besitzen. Es geht also um bevormundende Erklärungen von westlichen Beobachter:innen gegenüber Expert:innen aus dem östlichen Europa, die als Ausdruck von Ignoranz und Arroganz gesehen werden.
Der Anthropologe Ivan Kalmar geht in seinem jüngsten Buch „White but not quite: Central Europe’s illiberal revolt“[1] sogar noch weiter und konstatiert, dass es ein grundsätzliches Stigma gäbe, welches er „Eastern Europeanism“ nennt. Dieses Stereotyp denkt „Osteuropa“ als eine grundsätzlich rückständige Region mit korrupten Eliten und mittellosen Menschen, die für wenig Geld alles tun würden und kulturell bedingt autokratische Neigungen hätten. „Osteuropa“ und „osteuropäisch“ sind dabei keine geografischen Begriffe, sondern dienen laut Kalmar einer Abgrenzung mit rassistischen Zügen. Dies tritt zutage, wenn beispielsweise alles östlich von Deutschland als „Osteuropa“ markiert wird, obwohl Polen und Tschechien geografisch zu Mitteleuropa zählen müssten.[2] Die diskriminierende Komponente zeigt sich aber auch, wenn sich in Polen oder Tschechien Widerstand gegen die Zuschreibung „Osteuropa“ regt und beharrlich auf die eigene Zugehörigkeit zu Mitteleuropa verwiesen wird, wobei sich einerseits gegen die Zuschreibung eigener Rückständigkeit gewehrt und andererseits diese weiter nach Osten verschoben wird.
Was bedeutet das für Europa?
Deutungen werden oft von subjektiven Blickwinkeln beeinflusst. Diese können wiederum historisch, kulturell oder politisch geprägt sein. Nicht selten kommt es vor, dass sich in Interpretationen Machtgefälle manifestieren und Perspektiven marginalisiert werden. Die Gleichsetzung von Europa mit Frieden und Wohlstand – sei es nun nach 1945 oder 1990 – scheint so eine Art der Interpretation zu sein, die vor allem „Westeuropa“ ins Zentrum rückt und die westeuropäische Erfahrung zur gesamteuropäischen Erfahrung erklärt.
Das Ausblenden der ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Erfahrungen ist dabei mehrfach problematisch: Zum einen hindert es Europa an der Realisierung der eigenen Utopie, eine Wertegemeinschaft und ein geografischer Raum zu sein, in dem Wohlstand und Frieden gesichert werden können. Indem diese Wünsche als längst erreichte Zustände gedacht werden, wird verkannt, dass Europa nicht einmal annähernd am Ziel angekommen war und ist, Wohlstand und Frieden langfristig und nachhaltig über den gesamten Kontinent hinweg zu etablieren. Zum anderen hindert das Marginalisieren östlicher Perspektiven aber auch daran, Bedrohungen und Handlungsmaßnahmen einzuschätzen. In Zeiten, in denen eine scheinbare Rückkehr zu Frieden und Wohlstand um jeden Preis gefordert wird – wie beispielsweise bei Forderungen nach Zugeständnissen an Russland, die die territoriale Integrität der Ukraine, also eines europäischen Landes, betreffen – verkommen „Frieden“ und „Wohlstand“ selbst zu leeren Worthülsen, die Länder, wenn überhaupt, nur mit Blick auf den eigenen Nationalstaat verfolgen.