Die Klausur in der ersten Aprilhälfte 2022 läutete für mich eine postpandemische Zeit in dem Sinne ein, dass persönliche Begegnungen über die Binnengrenzen Europas hinaus trotz des weiter zirkulierenden Coronavirus wieder möglich sind. Nach zwei Jahren der Kontaktbeschränkungen und Lockdowns konnten Teilnehmer aus Deutschland, Frankreich, Italien und Polen in der Villa Vigoni zusammenkommen, um sich im Austausch der gemeinsamen europäischen (kulturellen) Identität zu nähern. Unter anderem wurden Aspekte der Mobilität und insbesondere des grenzüberschreitenden öffentlichen Personenverkehrs diskutiert, dem wir im Prozess des Zusammenwachsens der Länder Europas eine nicht unwesentliche Rolle zumaßen.
Diese Überlegungen beschäftigten mich wenige Wochen später erneut: Ich fuhr mit dem Zug von Berlin nach Prag und wurde in Bad Schandau daran erinnert, dass im Frühjahr 2020 der Bahnverkehr zwischen Deutschland und Tschechien eingestellt worden war. In der Villa Vigoni hatten wir darüber gesprochen, welche identitätsstiftenden Erfahrungen das Reisen mit der Bahn vermitteln kann, dass es etwa die Entfernung zwischen zwei Ortschaften im tatsächlichen Sinne er-fahr-bar macht. Der Blick aus dem Fenster fällt dabei auf entlang der Strecke gelegene historische Denkmale, geographische Besonderheiten, Schlösser, Burgen und Kirchen, die jeweils einen winzigen Teil einer gemeinsamen europäischen (kulturellen) Identität verkörpern und das Interesse des aufmerksamen Betrachters wecken können. Die bei einer anschließenden Recherche zu den neuen Eindrücken zutage tretenden geschichtlichen Hintergründe erinnern häufig unmittelbar an die Kriege und Konflikte der letzten Jahrhunderte, die mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 den Schleier des Vergangenen abgestreift haben und eine Schärfung unseres Blickes erfordern. Gleichzeitig kann der Aufenthalt im Bahnabteil zu unverhofften und lange im Gedächtnis bleibenden Begegnungen führen, da man als Tourist im öffentlichen Personenverkehr anderer Länder oft als solcher erkannt wird. Es kann dabei vorkommen, dass man zu einem Schnaps im Bordbistro eingeladen wird, aber auch bereits der Wunsch einer guten Reise in einer anderen Sprache markiert einen persönlichen Kontakt, der auf einer Mikroebene zu einem freundschaftlichen Verhältnis zweier Staaten auf der Basis gemeinsamer Werte beiträgt. Daher erscheint das grenzüberschreitende Reisen mit dem Zug nicht nur als zukunftsträchtig, da klimafreundlich, sondern auch als eine demokratische Art der Fortbewegung, die einen (zumindest in den meisten europäischen Ländern) räsonablen Preis mit der Möglichkeit verbindet, außerhalb der eigenen Komfortzone neue Erlebnisse zu machen.
Während ich aus dem Zugfenster die vorbeiziehende Elbe betrachtete und die Überlegungen in der Villa Vigoni rekapitulierte, kam ich zu dem Schluss, dass gemeinsames Bahnfahren zwar sicher nicht ein Universalmittel zur Verbesserung politischer Beziehungen ist (nur kurz sei aber auf die zahlreichen symbolträchtigen Zugreisen namhafter Politiker in die ukrainische Hauptstadt seit dem Beginn des Krieges verwiesen), dass es aber ein Puzzlestück bei der Suche nach einer gemeinsamen europäischen (kulturellen) Identität darstellen kann. Daher hoffe ich, dass gerade in gegenwärtigen und zukünftigen Krisenzeiten der grenzüberschreitende öffentliche Personenverkehr gewährleistet bleibt und dieser von vielen, gerade jungen Menschen genutzt wird. Einen Einstieg ermöglicht etwa „DiscoverEU“, eine Initiative der Europäischen Union, die seit Juni 2018 mehrere zehntausend Travel-Pässe im Jahr an 18-Jährige vergibt.