Ist es denkbar und wünschenswert, dass Menschen in Deutschland, Spanien und Ungarn eine gemeinsame europäische Identität teilen? Die gegenwärtige Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten einer geteilten europäischen Identität erinnert an Diskussionen, die um die Jahrtausendwende an der Streitfrage nach einer deutschen „Leitkultur“ entbrannten. Mit der deskriptiven Frage, was deutsch sei, ging die normative Frage einher, was ,deutsch sein‘ in Zukunft bedeuten solle. Und gerade diese ethische Dimension verlieh der Debatte Sprengkraft. In letzter Konsequenz ging es um eine gesellschaftlich-politische Machtfrage: Wer durfte wem vorschreiben, an welchen Werten er sich zu orientieren habe? Ganz ähnliche Fragen lassen sich mit Blick auf die Identität Europas stellen – und tatsächlich war die Leitkultur-Debatte ursprünglich nicht auf Deutschland, sondern auf Europa bezogen. 1998 führte Bassam Tibi den Begriff der Leitkultur in den politischen Diskurs ein, indem er in seinem Buch Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft ein klares Bekenntnis der europäischen Staaten zu den liberal-aufklärerischen Werten des Westens forderte. Europa solle sein Selbstverständnis aus den Errungenschaften der liberalen Moderne gewinnen, die für Tibi im Wesentlichen gleichbedeutend waren mit Menschenrechten, Demokratie, Laizismus, Aufklärung und einer engagierten Zivilgesellschaft.
Zur Streitfrage einer kollektiven europäischen Identität
Essay zum Villa Vigoni-Workshop "Europäische kulturelle Identität"
Damit vertrat Tibi eine liberale Position, die heute in den meisten europäischen Ländern zwar durchaus mehrheitsfähig sein dürfte, die aber sowohl in der Linken als auch in der Rechten gleichermaßen kritisiert wird. Auf der einen Seite stehen Teile des linken politischen Spektrums, die in der Forderung nach einer westlich-universalistischen Leitkultur eine Unterdrückung von Minderheiten sehen, deren kulturelle Eigenheiten Privatsache seien. Aus dieser Perspektive ist ein funktionierendes Zusammenleben bereits hinreichend durch die jeweiligen Verfassungen der europäischen Staaten geregelt. Wer von Minderheiten über die Einhaltung von Gesetzen hinaus eine Assimilation an eine europäische Leitkultur fordere, drücke damit Arroganz und Paternalismus aus und verstärke außerdem das Machtgefälle, das ohnehin bereits zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten herrsche. Darüber hinaus wird häufig darauf verwiesen, dass jeder Versuch, eine Leitkultur festzuschreiben, ohnehin zum Scheitern verurteilt sei. Schließlich befänden sich moderne Gesellschaften in einem ständigen Wandel, sodass die Suche nach einer fixierbaren Leitkultur von einem naiven Kulturessentialismus zeuge.
In rechten und konservativen Kreisen wurde der Begriff der Leitkultur zwar von manchen dankbar aufgegriffen, doch die Art und Weise, wie Tibi sich eine solche Leitkultur vorstellte, traf auf wenig Gegenliebe. Die europäische Identität sei nicht auf dem Wege der rationalen Konstruktion von Werten herzustellen, sondern durch eine beherzte Identifikation mit der eigenen Vergangenheit, so David Engels in Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik (2014). Weil universalistische Wertvorstellungen auch das Selbstverständnis vieler nichteuropäischer Länder prägten, ermögliche eine Berufung auf sie auch nicht die Herausbildung einer eigenen europäischen Identität. Identität setze Abgrenzung voraus; ein Werte-Universalismus, wie ihn Tibi vertritt, sei dagegen per se um die Auflösung von Grenzen bemüht. Was die europäischen Nationen über alle Unterschiede hinweg eine und von anderen unterscheide, seien nicht liberale Werte, sondern ein geteiltes geschichtliches Erbe, das für Engels im Wesentlichen in der klassischen Antike und dem Christentum besteht. Selbstbewusste Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit könne, so Engels, das europäische Gemeinschaftsgefühl stärken.
Die drei skizzierten Antworten auf die Frage nach einer europäischen ,Identität‘ – die liberale, die linke und die rechte – stehen vor je eigenen Problemen. Die von Tibi vorgeschlagene europäische Identitätskonstruktion auf Grundlage universeller Werte oktroyiert ethnisch-kulturellen Minderheiten eine Weltanschauung und eine Lebensform auf, die diese mitunter als Angriff auf ihr eigene Identität empfinden. Darüber hinaus mögen die Werte der Aufklärung zwar in Europa entstanden sein, wurden aber längst weit über die europäischen Grenzen hinaus von anderen Ländern adaptiert, sodass ihre Eignung zur Identitätsstiftung zumindest streitbar ist. Die multikulturalistische Antwort aus dem linken Spektrum weist die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Identität zugunsten eines individualistischen bzw. gruppenspezifischen Wertepluralismus ab: Was Europa ist und ausmachen soll, müsse jedes Individuum und jede Gruppe für sich selbst bestimmen können, solange die rechtlichen Rahmenbedingungen gewahrt bleiben. Dass eine solche Antwort wenig gemeinschaftsstiftend sein kann, liegt auf der Hand. Der rechten bzw. konservativen Antwort wurde vorgehalten, dass sie für das gegenwärtige – de facto stark von nichteuropäischer Migration geprägte – Europa zu exklusiv sei. Schließlich will sie Identität im Rekurs auf eine Vergangenheit stiften, die vielen Menschen fremd ist. Außerdem ist die Bezugnahme auf eine geteilte Vergangenheit alles andere als unproblematisch. Was Europa eigentlich ausmacht, welche historischen Ereignisse bedeutsam sind und wie sie zu bewerten sind, wird etwa von vielen Polinnen und Polen ganz anders bewertet als in vielen westeuropäischen Ländern. Dies zeigt schon die hitzige Debatte um das Haus der europäischen Geschichte – einem Museum, das auf Initiative des Europäischen Parlaments ins Leben gerufen wurde. Während für die polnische Delegation etwa Johannes Paul II. in einer Darstellung der europäischen Geschichte einen prominenten Platz einnehmen musste, war der frühere Papst den Ausstellungsmachern keine Erwähnung wert.
Dieser knappe Überblick über drei häufig anzutreffende Positionierungen zur europäischen Identitätsfrage lässt deutlich erkennen, dass die Ausbildung einer gemeinsamen Identität im heterogenen Europa außerordentlich schwierig ist. Tiefe Gräben verlaufen nicht nur zwischen verschiedenen politischen Lagern, sondern ebenso zwischen unterschiedlichen europäischen Ländern, in denen jeweils sehr unterschiedliche Erinnerungskulturen und Wertvorstellungen vorherrschen. Der Workshop in der Villa Vigoni, an dem ich als Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung im Frühjahr 2022 teilnehmen konnte, hat mir noch einmal deutlicher gemacht, wie vertrackt die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Identität eigentlich ist. Frei nach Sokrates kann man darin durchaus einen Gewinn sehen: Wo keine abschließende Klarheit zu erreichen ist, ist ein besserer Überblick über die eigene Unklarheit schließlich bereits ein Schritt nach vorn.