Bei einer Gegenüberstellung des Leipziger Denkmals mit einer der bekanntesten antiken Hermen, gefunden in Pergamon, machen sich vor allem Unterschiede bemerkbar (Abb. rechts). Abgesehen vom Material betrifft dies die verschiedenen Übergänge zwischen Kopf und Pfeiler der beiden Bildwerke. Zudem besaßen antike Hermen nicht nur kurze, sondern vielfach auch längere Inschriften, sowie seitliche Balkenstümpfe bzw. Einsätze für solche auf dem Pfeiler und einen Phallos im Relief.
Das Denkmal Mendelssohns steht thematisch und historisch im topografischen Zusammenhang mit dem Leipziger Musikviertel. Dem gegenüber war die pergamenische Herme Ausstattungselement des Attalos-Hauses. Durch die Inschrift auf dem Schaft und unter Einbezug von Vergleichsobjekten zeigte sich außerdem, dass das Werk aus dem 2. Jh. n. Chr. auf ein Werk des Alkamenes aus der Mitte des 5. Jh. v. Chr. Bezug nimmt. Dieser nicht mehr erhaltene sog. Hermes Propylaios war an den Propyläen der Athener Akropolis unmittelbar am Eingang zum Stadtberg platziert. Die Weihepigramme auf Pfeilerschäften von Hermen aus der Zeit des Alkamenes und aus Generationen vor ihm bezeugen die Verbindung zu männlichen Mitgliedern der athenischen oder attischen Eliten bzw. zu deren öffentlichen Ämtern. Bisweilen erwähnten sie Stiftende oder vermittelten Sprüche an Rezipient:innen, während die Inschrift am Leipziger Denkmal hingegen einzig einen Namen nennt und so bei der Identifizierung des Dargestellten als Felix Mendelssohn Bartholdy hilft.
Abseits der Unterschiede offenbart die Gegenüberstellung auch Gemeinsamkeiten. Das Denkmal Mendelssohns und die Hermen eint zunächst die Darstellung männlicher Köpfe auf Pfeilern. Während die Hermen des 6. und 5. Jh. v. Chr. mit ihren Vollbärten vor allem in Verbindung zu griechischen Göttern zu verstehen sind, stellen Hermen seit dem 4. Jh. v. Chr. auch, wie im Fall des bartlosen Mendelssohn, gewürdigte Männer dar. Mit fortlaufender Nutzung waren solche Bildwerke von Gelehrten dann ab dem 1. Jh. v. Chr. auch Ausstattungselemente von Gebäudeanlagen. Ein Aspekt, der Hermen mit dem Denkmal Mendelssohns und anderen Musikerdenkmälern in öffentlichen und privaten Garten- und Parkanlagen in Leipzig verbindet.
Derartige Vergleiche verdeutlichen zunächst eine wiederholte Verwendung von Formen und die Modifikation von Elementen, erlauben jedoch kaum direkte Rückschlüsse auf die Antike. Dafür bietet die wechselhafte Geschichte des Leipziger Denkmals Anreize für weiterführende archäologische Fragestellungen. So wurde das 1947 von Walter Arnold und der Bronzebildgießerei Noack gefertigte und am zerstörten Gewandhaus eingeweihte Denkmal 1967 auf Beschluss des Rates der Stadt Leipzig in die 250 Meter nördlich entfernte Fritz von Harck-Anlage versetzt und blieb dort bis ins Jahr 1997. In der Folge sollte es aufgrund der Umgestaltung dieser Anlage zunächst auf dem Gelände des ehemaligen Gewandhauses einen neuen, topografisch relevanten Platz finden, wurde schließlich an den jetzigen Standort gesetzt.
In der archäologischen Forschung wird den ältesten antiken Hermen auf Grund des statischen Aufbaus der nur teilanthropomorphen und architekturnahen Gestaltung mehrheitlich eine Wirkung von konservativer Beständigkeit und altehrwürdiger Erscheinung zugeschrieben. Vielleicht erweitert es unsere Perspektive, diese Hermen auch im Hinblick auf ihre Beweglichkeit und ihre Anpassungsfähigkeit zu befragen? So erlauben die wechselnden Standorte des Leipziger Denkmals Einblicke in stetige Veränderungen öffentlicher Räume. Antike Hermen waren ebenfalls von ähnlichen Prozessen, d. h. von Bau-, Reparatur- und Umgestaltungsmaßnahmen von Gebäuden oder Platzanlagen, betroffen. Dies sollten wir bei Überlegungen zur Platzierung dieser Bildwerke auf Marktplätzen, an Gymnasien, in Heiligtümern oder Wohnbauten auch in den Blick nehmen. Ihre Platzierung wird insbesondere zur Zeit ihrer Einführung nicht nur einen althergebrachten, sondern wohl auch einen innovativen Effekt auf die Gestaltung öffentlicher Plätze gehabt haben.
Anhand des Übersehens der Büste Mendelssohns durch den Großteil der gegenwärtigen Vorbeigehenden Rückschlüsse auf die Interaktion antiker Betrachter:innen und Hermen zu ziehen, ist nur bedingt möglich. Umso mehr bietet ein Blick in die Gegenwart jedoch Ansatzpunkte, um den Umgang mit und die Nutzung von Objekten durch Menschen aus anderen Perspektiven zu betrachten und mit neuen Fragen zu versehen.