Nun ist es aber so, daß nun doch dieses Bild ganz offensichtlich mit dafür gesorgt hat, daß es einen Umschwung im Denken vieler Europäer, nicht nur bei vielen Deutschen, gegeben hat. Manchmal kann ein einziges Bild das erreichen. Manchmal kann nur ein Bild das erreichen. Manchmal ist das reale Leid eines Menschen eindringlicher als eine kaum noch nachvollziehbare Zahl von 25.000 ertrunkenen Menschen im Mittelmeer. Und wenn es Kritik daran gibt, daß das Bild etwa bei Facebook zwischen ganz anderem Kontent stehen könnte, müssen wir generell die Durchmischung der Nachrichten kritisieren. Denn dann ist es egal, ob es dieses Bild ist oder der Bericht über 72 tote Syrier in einem LKW in Österreich. Wollen wir wirklich die saubere Trennung? Hier "Nachrichten", da das "Feuilleton"? Auch der Schockeffekt trägt manchmal mehr dazu bei, daß zumindest ein Teil der Menschen versteht und endlich mal wieder das Herz und das Hirn einschaltet, statt tausend Appelle. Ja - das Bild wurde instrumentalisiert. Aber nicht immer ist das etwas per se Schlechtes. Ich denke, ohne das Bild wären bis heute noch zigtausend Syrer mehr in Ungarn von Orbans neofaschistischem Regime eingesperrt.
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Danke für das profunde Interview, wobei der Haltung von Herr Stiehl aus meiner Sicht wenig hinzuzufügen ist. Herr Cyron hingegen benutzt in seinem Kommentar exakt die Argumentation, welche die Bildzeitung heute noch einmal plakativ in den Vordergrund stellt, wobei Sie, statt Bilder zu zeigen, nur noch mit grauen Platzhaltern aufwartet. Im Übrigen sitzt Herr Cyron einem "Umschwung im Denken vieler Europäer" durch das Foto auf, der zwar medial insbesondere von denjenigen verbreitet worden ist, die das Foto gezeigt haben, der sich aber kaum auf eine Realität in den meisten europäischen Ländern stützen kann.
Man kann das sehr schön am Beispiel Großbritannien zeigen: Am 4.09. erschien von J. Buchsteiner in der FAZ ein Artikel mit der Überschrift "Die Entdeckung der Moral", und in der Unterüberschrift wurde dem Leser erklärt, D. Cameron wäre durch das Bild des toten Aylan Kurdi zu einer Kehrtwende in seiner Asylpolitik veranlasst worden (http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/david-cameron-die-entdeckung-der-moral-13785837.html). Während auf der ersten Seite diese vermeintliche Kehrtwende Camerons überschwänglich gefeiert und Großbritannien als ein Land im "Flüchtlingsfieber" beschrieben wurde, erfuhr der erstaunte Leser auf Seite 2, dass unter Camerons Kehrtwende ungefähr die Haltung zu verstehen ist, die Australien und Kanada in der Asyl- und Einwanderungspolitik an den Tag legen (verkürzt: Einreiseerlaubnis nur für handverlesene Ausländer und rigide Abschiebepraktiken). Dass die so genannte Kehrtwende nicht nur von Cameron, sondern auch innerhalb der britischen Bevölkerung eine Illusion ist, konnte man heute morgen nachvollziehen, als Die Zeit das Ergebnis der dortigen Abstimmung zur Durchführung des Referendums über den Verbleib in der EU publizierte: 316 gegen 53 Abgeordnete für eine Durchführung des Referendums bei gleichzeitigen Umfragergebnissen von 43 % Ablehnern der EU gegen 40 % Befürworter der EU (http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/eu-grossbritannien-austritt).
Kontrastieren wir das mit der Stimmung in anderen EU-Staaten. 10 Millionen Euro wird Großbritannien für Stacheldraht etc. in Calais zusätzlich ausgeben. Merkwürdigerweise arbeitet sich nahezu die gesamte mediale Welt zumindest in Deutschland aber fast ausschließlich an Viktor Orbán und "DEN Ungarn" ab, obgleich in Ungarn genau das paktiziert wird, was Spanien und Portugal schon vor langer Zeit getan haben und Großbritannien gerade ebenfalls tut. Die Begleitrhetorik in Großbritannien ist halt eine andere als in Ungarn. Ungarn steht freilich nicht allein, und weder dort noch in vermutlich allen osteuropäischen EU-Staaten gibt es signifikante Hinweise darauf, dass dort eine ähnliche Haltung an den Tag gelegt würde wie in Deutschland. Vielmehr assistieren Polen, die Slowakai, Tschechien und Estland den Ungarn in abwechselnder Reihenfolge, und es ist nicht erkennbar, dass dieser regelrechte politische Block über Nachte eine Kehrtwende vollziehen würde (nebenbei fast alles Länder mit sehr stabilen Mehrheiten innerhalb der Parlamente). Orbán wird im Übrigen auch in Österreich von weiten Teilen der Bevölkerung frenetisch gefeiert, und die FPÖ marschiert derweil stramm in Richtung 40 %. Von Marine Le Pen, die das Ganze noch mit einem antideutschen Zungenschlag versieht und einen kopflosen François Hollande vor sich her treibt (mittlerweile mit zumindest inhaltlicher Unterstützung der Republikaner), wollen wir mal ganz schweigen.
Bleiben als Rettungsanker für den vermeintlichen europäischen Umschwung noch Spanien und Portugal. Beide befinden sich auf Tauchstation, und angesichts von nach wie vor 50 % Jugendarbeitslosigkeit in diesen beiden Ländern dürften die dortigen Bevölkerungen auch ziemlich froh darüber sein, dass ihre schon vor langer Zeit gebauten Grenzsicherungen offenkundig halten.
Skandinavien, ja die liberalen Sklandinavier, die müssten doch dieselbe Haltung an den Tag legen wie in Deutschland! Wie sieht jedoch die Realität aus? Die liberale Minderheitsregierung in Kopenhagen, die von der Dänischen Volkspartei gestützt wird, hat das dänische Asylrecht binnen kürzester Zeit nach den Wahlen dramatisch verschärft, und man wird an der deutsch-dänischen Grenze vermutlich demnächst wieder Grenzkontrollen einführen. Vebleiben Schweden und Finnland - im einen Land sind die rechten Schwedendemokraten innerhalb von Monaten von 5 auf jetzt fast 20 % angewachsen, und im anderen Land regieren die Wahren Finnen schon mit - dürften davon hoch erfreut sein, weil man nämlich auf dem Landweg nur über Dänemark in ihre Länder einreisen kann.
Also, wenn ich das jetzt mal so zusammenfassend betrachte, dann kann ich von der Auswirkung eines Fotos auf die Realpolitik in Europa nur wenig erkennen. Was ich allerdings erkenne, ist eine dramatische und sich Tag für Tag verschärfende Krise der EU, die sich von einer Wirtschaftskrise in eine politische Krise verwandelt hat, die mit einer innereuropäischen Entsolidarisierung einhergeht, die ihresgleichen sucht, und in der Deutschland demnächst ziemlich allein auf weiter Flur dastehen könnte.