L.I.S.A.: Sie betrachten in Ihrer Arbeit eine beachtliche Anzahl verschiedener Städte und Orte, um ein Bild des Jahres 1919 zu zeichnen – so schreiben Sie, es wurde der Versuch gemacht „die Topographie gegenüber der Chronologie hervorzuheben“. Warum messen Sie ersterer einen solch hohen Stellenwert für das Jahr 1919 bei?
Prof. Dr. Cepl-Kaufmann: Auch hierzu möchte ich aus mehreren Perspektiven Stellung nehmen: Karl Schlögel hat mit seiner These „Im Raume lesen wir die Zeit“ ein buchstäblich, doch auch symbolisch geltendes „weites Feld“ eröffnet. Bezogen auf 1919 drängt sich eine solche Feldanalyse, auch mit Pierre Bourdieus und Michel Foucaults kulturtheoretischen und -soziologischen Studien fundiert, geradezu auf. Der topographische Blick lässt zusätzliche Differenzierungen zu, vermittelt ‚Anschauungen‘, die in einer chronologisch angelegten Analyse weniger deutlich herausgestellt werden können. Chronologien zwingen zu stark zu einer Deutung im Rahmen einer Gesamtschau, die Topographie sucht Unterschiede und Einzelheiten um ein möglichst differenziertes Bild zu entwerfen, das dem Betrachter/Leser als Appell zu Erkenntnis und Durchschauen begegnet.
Hier ein Beispiel: Die topographische Schau erlaubt eine komplexere Bewertung des Räte-Gedankens. „Spartakus“ in Bremen oder Berlin und die anarchistischen Räte in München trennte mehr als sie verband. Glaubten die einen an die politische Macht einer Partei, war den anderen die kleindimensionierte, auf Räteformat reduzierte Gemeinschaft als Form der direkten Demokratie unverzichtbar. Die Bremer waren Kommunisten, die Münchner Anarchisten, teils unmittelbar aus der Schwabinger Boheme in politische Ämter gelangt. Schon Karl Marx hatte sie unter der Kategorie „Lumpenproletariat“ für eine kommunistische Bewegung als gänzlich ungeeignet, ja, als mit einem geradezu ausschließenden Kriterium behaftet, stigmatisiert. Die beiden politischen Richtungen, die damals um die Deutungsmacht konkurrierten, brachte die Fülle der Wanderer zwischen beiden Welten hervor, insbesondere Intellektuelle und Künstler, die es temporär zu den Kommunisten nach Berlin zog, wenn sie nicht schon längst in die durchaus reizvolle junge Sowjetunion, das scheinbar verwirklichte Mekka der Moderne, gepilgert waren, und die doch in der Regel enttäuscht zurückkamen, etwa Kandinsky, um dann im Bauhaus in Weimar eine zeitweise Heimat zu finden. Auch dort war man zwar rot, aber nicht so rot, wie es die Roten wollten – eben: anders rot. Heinrich Vogelers „Kommunistische Arbeitsschule“ in Worpswede hatte mehr mit der ebenfalls 1919 in Stuttgart gegründeten Waldorfschule Rudolf Steiners gemein als mit den politischen Ideen der Kieler Matrosen. Einzig Rosa Luxemburg hätte eine Integration oder Annäherung der beiden politischen Strömungen leisten können. Doch die wurde bekanntlich schon im Januar zur Märtyrerin des Jahres.
Im topographischen Blick zeigt sich optimal: Es gab einen Wimperschlag lang, nämlich 1919, politisch kontroverse Konzepte, beide wurden von je eigenen Gruppierungen getragen, beide unterschieden sich fundamental in ihrer politischen Praxis. Vor allem aber setzten sie die je eigene gewachsene kulturelle Identität einer Region oder eines urbanen Milieus voraus. In Hannover bringt Kurt Schwitters spöttischer Biedervers: „Frieda, die Filzpantoffeln!“ die mentale Gestimmtheit besser zum Ausdruck und bietet damit einen Vergleich mit anderen Städten und Regionen als die Tatsache, dass auch Hannover seine Arbeiter- und Soldatenräte hatte.
An vielen Ecken brannte es, explodierten die Ideenbörsen, doch auch die „anwesende Abwesenheit der Vergangenheit“, um es mit Achim Landwehrs Worten zu sagen, meldete sich, prägte einzelne Regionen und Städte und wollte in dieser historischen Stunde zu Wort kommen: das neoidealistische Weimar mit seinem nicht klein zu kriegenden Goethe-Kult, das nun dem Bauhaus das Leben schwer machte, das seit Jahrhunderten umstrittene Straßburg, Festungsstadt, Teil einer ebenso europäisch dimensionierten wie nationalistisch aufgeladenen mental map Deutschland, nicht zuletzt Leipzig, die Bücher- und Aufklärungsstadt, mit dem Völkerschlachtdenkmal 1919 zum traurigen Ort des verlorenen Integrationsprojektes von Adel und Bürgertum degradiert, das nun mit seinem Reichsgericht den alliierten Ruf nach Sühne für die Kriegsverbrecher, einschließlich des Kaisers, abwickeln sollte.
Mein Versuch, mit einer solchen Topographie das Besondere der je eigenen Geschichten einzelner Städte und Landschaften einzufangen, beschränkt sich dabei nicht auf eine Addition, die Auswahl ist nicht zufällig, sondern stellt in toto das Markante eines historisch föderalen Deutschland zusammen, das sich 1919 neu erfand, genauer: erfinden musste. Träume von neuen/alten Allianzen wie einem alemannisch-süddeutschen Reich, die Reintegration Österreichs, ein neuer, antipreußischer Block in norddeutschen Regionen blieben Träume, fielen, wie die neue Liaison mit Österreich, mit dem Versailler Verbot.
Auch die Folgen lassen sich im topographischen Blick ausdifferenzieren: München, das nach der Revolution, der kurzen Eisner-Ära und der nachfolgenden Räteregierung ein Feindbild gegen alles, was nach „Jud und Preiß“ roch, entwickelte, wurde zum braunen München, zum Sammelbecken von Nazis aus ganz Deutschland.
Fazit: Deutschland dachte sich tatsächlich neu, auch mit einem hohen Anteil jüdischer Intellektueller wie Gustav Landauer und Erich Mühsam in München, Franz Rosenzweig und Martin Buber in Frankfurt und Heppenheim. Sie waren, wie der 1919 nachwirkende, von Buber und Landauer 1907 gegründete, zutiefst aus dem Geist des Humanismus und Messianismus geprägte „Sozialistische Bund“, unmittelbar in die Revolution einbezogen. Auch damit lässt sich einem verbreiteten Vorurteil begegnen: Allzu sehr drängt sich im historischen Bewusstsein die Vorstellung vom Straßenterror in Berlin ins Bild. Abgesehen davon, dass die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht dem rechten Terror zu verdanken ist, bedient die Reduktion der Räterevolution kollektive Ängste. Sie sind bis heute abrufbar und verhindern, dass politisch zeitadäquate Forderungen aus dem Gesamtpaket Revolution ihren Stellenwert im politischen Diskurs erhalten. Solche Ängste, so wollte ich mit dem Blick auf die „zweifache Republik“, die, die 1919 in Weimer und Berlin geschaffen wurde, herausarbeiten, hatten in Weimar ihren Nährboden und hielten die, die den Grund der Ängste hätten angehen müssen, gerade davon ab. Eine Politik, die in Berlin gemacht wird, ist anders, als sie in Weimar hätte gemacht werden können, einem Ort mit eigenwilliger Identität, einem lange herausgebildeten und fleißig bedienten Mythos, der, auf 1919 bezogen, gerade einmal Fluchtqualität bereithielt. Das trifft im Übrigen auch auf die Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Wäre nicht Bonn, sondern München zur Hauptstadt der jungen Bundesrepublik erkoren wurden, hätten wir es heute mit einer ganz anderen Geschichte zu tun.
Noch ein weiteres Ereignis, das sich eng an 1919 bindet, ruft geradezu nach einer topographischen Sicht. 1919 war das Jahr, das nicht nur die Folgen der Auflösung des Kaiserreichs zeitigte, vielmehr noch die der mit der Revolution innerhalb weniger Wochen von der Bildfläche verschwundenen Adelsherrschaft und -kultur. Die 22 Monarchen residierten lange und hatten entsprechend topographisch sehr unterschiedliche Geschichten und Gesellschaften produziert. Das Kaiserreich war gegenüber der gewachsenen föderalen Struktur ein darüber gesetzter Zentralismus, wurde das, was unsere „verspätete Nation“ auszeichnet. Nun meldete sich 1918/19 das föderale Deutschland zurück, nur für wenige Monate. Der Zentralismus der Weimarer Republik hat diese kurze Zeitspanne überschrieben und produzierte ein bis dahin so nicht gekanntes Feindbild Provinz - Großstadt. Mein topographischer Ansatz ist eine der noch längst nicht ausgeschöpften Möglichkeiten, den wirklichen Verlust von Strukturen, an Herrscherpersönlichkeiten gebundene symbolische Macht, an Habitus und Identitäten auszudifferenzieren.
Last but not least ist mein Buch deshalb topographisch angelegt, weil es sich als ein kulturwissenschaftliches Experiment versteht. Ich habe einige Erfahrungen in der Praxis des Ausstellens, bin beteiligt am aktuellen Diskurs zum Ausstellen und durch ein eigenes, über Jahre erprobtes Lehrprojekt „Archiv – Museum – Ausstellung“ vorbereitet. Den Erkenntnisprozess zwischen Entdeckung von Archivgut und der Transformation in die visuelle Ebene, auch die Arbeit am Erkenntniswert solcher Ausstellungen, die ich über viele Jahre hinweg mit Studierenden erprobt habe, findet hier eine eigene und eigenwillige Diskursebene. Ich verstehe mein Buch als eine Ausstellung über das Jahr 1919: Als Kuratorin einer solchen Ausstellung erwartet man von mir Sachkompetenz - dazu mehr in den folgenden Fragen -, aber auch ein Konzept, das den Transfer von Erkenntnis optimiert und darüber hinaus als motivationssteigerndes Leseerlebnis anbietet. Text und Bild gehen eine produktive Symbiose ein, weil die an sie gebundenen Verstehensprozesse sich bedingen. Wie in jeder Ausstellung gilt entsprechend auch hier, dass das Thema durchaus sehr unterschiedlich vermittelt werden kann. Meine Lösung, die ich mit meinem Buch offeriere, lässt vieles aus und vieles zu. Dabei fordert meine hermeneutisch fundierte Wissenschaft für die Beschäftigung mit einem Stück Geschichte die Gleichwertigkeit für Politik und Kultur. Allzu lange hat man unterschieden zwischen der hermeneutica sacra und einer hermeneutica profana: doch die Deutungshoheit der Historiker ist nicht sakrosankt. Mein Buch möchte auch zeigen, dass die Verdrängung der Kultur ins Abseits Teil des Problems ist, das es schon im Kaiserreich gab und das nach 1919 mit der Republik weitergeschrieben wurde. Nur 1919 war es, schien es, wie oben gesagt, einen Wimpernschlag anders. Das will mein Buch über ein „deutsches Jahrhundertjahr“ für die kulturelle, aber auch gesamtgesellschaftliche Erinnerung festhalten.
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Für das Bauhaus in Weimar grundlegend: die Parallele von Abstraktion und Atonalität, Intuition des Einzelnen und Verantwortungsethik für ein je gesellschaftliches Ganzes, Kontrast von idealer Utopie idealen Denkens (Itten) versus konkreter Situation phänomenologischer Untersuchung (Hauer). Der Anteil Wiens prägte nachhaltig Wege in Deutschland nach I. wie II. Weltkrieg und sollte in der europäischen Geistesgeschichte nicht ausgelassen sein.