Das Jahr 1919 - der Beginn der Weimarer Republik, die Einführung des deutschen Frauenwahlrechts, die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts. Die Liste der Ereignisse des Jahres ist lang, auch der Beginn der sogenannten Bauhaus-Bewegung lässt sich in diesem Jahr verzeichnen. Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat ihre aktuelle Publikation diesem ereignisreichen Jahr der deutschen Geschichte gewidmet und betrachtet bekannte sowie neue Aspekte. Im Interview haben wir mit der Literaturwissenschaftlerin und Leiterin des Instituts "Moderne im Rheinland" über ihre topographische Studie des Jahres gesprochen.
"Eine Fülle von neuen Erkenntnissen zu einem Ereignis"
L.I.S.A.: Frau Prof. Dr. Cepl-Kaufmann, in diesem Jahr ist Ihre aktuelle Publikation erschienen, in der Sie das Jahr 1919 als eine „Zeit der Utopien“ näher betrachten. Welche Überlegungen gingen der Untersuchung voraus? Wie ist das Buch entstanden?
Prof. Dr. Cepl-Kaufmann: Zwei Erfahrungen und Ereignisse haben mich motiviert, einen Blick auf das schmale Zeitfenster zwischen November 1918 und dem ausgehenden Jahr 1919 zu werfen: Die Erinnerungskultur der vergangenen Jahre zum Ersten Weltkrieg hat von Christopher Clark bis Gerd Krumeich eine Fülle von neuen Erkenntnissen zu einem Ereignis erbracht, dessen quantitative und qualitative Bedeutung für Deutschland, Europa und die Welt bisher kaum angemessen eingeschätzt wurde. Als Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates in einem der größten Projekte, das vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) betreute Gesamtpaket „1914 – Mitten in Europa“ mit Kongress, Ausstellungen und Diskursen, war ich mehr als drei Jahre in Sachen Kriegsgedenken unterwegs und hatte Gelegenheit, von den Kriegszitterern bis zu den auch nach 100 Jahren wöchentlich frisch aus den Feldern/Schützengräben ans Licht beförderten Kriegsschrott im Historial de la Grande Guerre in Peronne (in dem ich mit Gerd Krumeich und Jasmin Grande die Ausstellung „Krieg und Utopie“ / „L’Autre Allmagne“ kuratiert hatte), das anzusehen und zu begreifen, was sich nur mit dem Denkbild Apokalypse benennen lässt. Diese Dimension und die Folgen, ja, die Nachhaltigkeit für das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart hatte ich bis dahin unterschätzt.
Ein Blick zurück: Als eines meiner ersten Seminare an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hatte ich als junge Dozentin im Sommersemester 1969 das Thema „Schriftsteller in der Münchner Räterepublik“ angeboten. Ich arbeitete damals an meiner Dissertation über Günter Grass, und Literatur und Politik zu verknüpfen, entsprach dem damaligen Zeitgeist, doch bis heute begleitet mich aus diesem Diskurs ein Begriff wie „Menschheitskathedrale“, einschließlich des expressionistischen Pathos, mit dem eine pazifistische Zukunft beschworen wird:
„Nun öffnet sich, aus Weltenschoß geboren / Das hochgewölbte Tor der Menschheitskathedrale. / Die Jugend aller Völker schreitet flammend / Zum nachgeahnten Schrein aus leuchtendem Kristall, / gewaltig schau ich strahlende Visionen, / kein Elend mehr, nicht Krieg, nicht Hass.“
Das war konkrete Utopie, von Ernst Toller 1919 im Gefängnis Stadelheim im dort entstandenen Drama „Die Wandlung“ beschworenen. Hinter Gitter gebracht hatte man ihn wegen seiner Beteiligung an den revolutionären Ereignissen der Münchner Räterepublik. Seine Vision von Zukunft versetzte als wirkmächtige Utopie die Besucher der Uraufführung im September 1919 in der Berliner „Tribüne“ je nach Temperament in Schockstarre oder Tränenausbrüche. Ganz gleich wie sie reagierten, es einte sie das kollektive Begehren nach ewigem Frieden und sinnstiftenden Antworten. Sie waren bereit, auf Bilder ihres kollektiven Gedächtnisses zurückzugreifen und ahnten, angeregt von Toller, dass es nur eine neue „Kathedrale“, von ‚übermenschlichen‘ Dimensionen im Sinne Friedrich Nietzsches schaffen könne, diesen hassbesetzten Zeiten eine Alternative entgegenzusetzen und Deutschlands Zukunft denk- und formbar zu machen.
Was ich damals noch für ein Unikat hielt, eine persönliche Handschrift des Schriftstellers, erwies sich, wie meine zunehmend topographisch angelegten Studien zu Regionen in Deutschland erkennbar machten, tatsächlich als flächendeckendes Phänomen. Die spirituelle Sinndeutung der aktuellen Gegenwart mit dem Denkbild Kathedrale begegnet 1919 in Hannover in Kurt Schwitters Merzbau, von ihm als „Kathedrale des erotischen Elends“ benannt, als eine Art dadaistische Gegenschreibung. Walter Gropius wählt für das Titelblatt seines „Bauhaus-Manifestes“ Lyonel Feiningers „Kathedrale“. Im „Weltbaumeister“, einem „Architekturdrama“ des Berliner Mitbegründers des „Arbeitsrats für Kunst“, Bruno Taut, wird das Motiv kosmisch zum „Kathedralenstern“ aufgelöst. Präsent ist es in der Gemeinschaftsutopie des Pfingsten 1919 in Neuss begründeten Reformbundes „Der weiße Reiter“, der seinen Ort suchte zwischen katholischer Liturgiebewegung, der Nähe zur Düsseldorfer Avantgarde im „Jungen Rheinland“ und als Gegenentwurf zu Spenglers 1918 erschienenem opus magnum „Der Untergang des Abendlandes“.
Mein Fazit: Als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin - wenn ich auch einst Geschichte studiert habe -, konnte ich gar nicht anders, als die Summe aus meinen Erfahrungen zu ziehen: der Blick über die historische Faktenlage hinaus auf das, was Literatur, Theater, Schulen, Sinngemeinschaften, auch „Orden“ in diesem Jahr 1919 als temporären Freiraum zur experimentellen Vorwegnahme von Zukunft nutzten, ist unvergleichlich. Einen solchen „Freiraum“, sei er real dank der Tatsache, dass 1919 das einzige Jahr des Jahrhunderts war, in dem die Zensur aufgehoben war und eine neue Gesetzgebung fehlte, sei es der erträumte, besetzte das politische Vakuum zwischen der Auflösung des Kaiserreichs, Revolution und der Etablierung der Republik. Insbesondere für die Intellektuellen und Künstler schien es eine ganze Ewigkeit lang möglich, das Wirklichkeit werden zu lassen, was ihnen ihr Metier über die Jahrhunderte hinweg als wünschenswert beigebracht hatte. Immerhin ein halbes Jahr schien, so, wie Toller es als Kollektivaufruf auf die Bühne gebracht hatte, ein Bauauftrag alle geistigen Kräfte zu mobilisieren. Verstanden wurde dieser „Bau“-Auftrag für symbolisches und reales Handel. Persönlichkeiten wie Toller und Taut, Ernst Bloch und Walter Gropius sprachen in diesem Hoffnungsjahr aus einem Munde.
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Für das Bauhaus in Weimar grundlegend: die Parallele von Abstraktion und Atonalität, Intuition des Einzelnen und Verantwortungsethik für ein je gesellschaftliches Ganzes, Kontrast von idealer Utopie idealen Denkens (Itten) versus konkreter Situation phänomenologischer Untersuchung (Hauer). Der Anteil Wiens prägte nachhaltig Wege in Deutschland nach I. wie II. Weltkrieg und sollte in der europäischen Geistesgeschichte nicht ausgelassen sein.