Im laufenden Jahr ist das Bauhaus anlässlich seines 100. Geburtstags bereits mehrfach bejubelt worden. Feuilletonsjournalisten, Filmproduzenten und andere Medienschaffende überschlugen sich regelrecht mit Lobpreisungen, nicht selten aus einer sehr gegenwartsnahen Perspektive. So probierte sich beispielsweise der Film "Lotte in Weimar" darin, die Geschichte des Bauhauses in ein Gendernarrativ einzukleiden. Die Kunsthistorikerin, Kuratorin und Bauhaus-Expertin Dr. Jeannine Fiedler sieht das 100-jährige Jubiläum nicht nur deshalb kritisch, sondern plädiert insgesamt für eine sachliche Rückschau. Bereits 2016 erschien der von ihr mitherausgegebene Bauhaus-Band in einer überarbeiteten Fassung. Wir haben ihr nun unsere Fragen zu ihrer Sicht auf 100 Jahre Bauhaus gestellt.
"Der Wille zum Bruch mit alten Bautraditionen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Fiedler, Sie beschäftigen sich seit langer Zeit intensiv mit dem Bauhaus. Bevor wir zu dem anhaltenden 100jährigen Jubiläum kommen, würde ich gerne mit Ihnen klären wollen, welches Verständnis vom Bauhaus Sie haben? Sprechen wir von einem Architekturstil, einer Kunstrichtung, einer Lebensauffassung, einer ästhetischen Ausrichtung oder von einer konkreten historischen Phase der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Dr. Fiedler: Vorab: Als ich 1986 als junge Kunst- und Filmhistorikerin anfing, im Berliner Bauhaus-Archiv, Museum für Gestaltung (BHA) zu arbeiten, wurden mir in meiner ersten Arbeitswoche zwei elementare Dinge mit auf meinen Berufsweg gegeben: Es gäbe keinen Bauhaus-Stil. Punkt. Und: Frauen müssten im kunsthistorischen Metier, um etwas zu erreichen, doppelt so hart arbeiten wie ihre männlichen Kollegen. Letzteres wurde apostrophiert von „Lady Bauhaus“, Magdalena Droste, die sich unbedingt an diese Aussage gehalten hat und am BHA gemeinsam mit Klaus Weber und anderen KollegInnen die Grundlagen für weitere Forschungen über Werkstätten und herausragende Meister-Persönlichkeiten sowie Studierende schuf und für mich persönlich eine ideale Mentorin durch ihr sprichwörtliches Fördern und Fordern wurde.
Das BHA stellte vor dem Fall der Mauer und danach die ‚Sturmspitze‘ der Bauhaus-Forschung dar. Dies war zum einen dem Umstand geschuldet, dass seine Sammlung bereits in den späten 1950er Jahren durch einen enthusiasmierten Kunsthistoriker und Journalisten Gestalt annahm. Einer Dekade, in der die Schule in der DDR noch des Formalismus geziehen und absolut verpönt war. Hans Maria Wingler als begeisterter Moderne-, Bauhaus- und Expressionismuskenner war es, der dann die Gründung eines musealen Archivs für die stetig wachsende Sammlung energisch vorantrieb, das – nachdem die Darmstädter Stadtväter das Projekt endgültig hatten fallen lassen – am Berliner Landwehrkanal nach Plänen von Walter Gropius errichtet wurde und gegenwärtig umgebaut und erheblich erweitert werden soll. Wobei hier hoffentlich wider den fatalen Ruf der Hauptstadt, architektonische Großprojekte endlos zu verschleppen oder gar nicht mehr zu realisieren, die Neueröffnung im Herbst 2022 stattfinden wird. – Zum anderen erfolgte die Revidierung der ideologischen Ablehnung durch die DDR nur zögerlich. Sie mündete Mitte der 1970er Jahre mit der Restaurierung der Schulgebäude des Dessauer Bauhauses und einer weiteren Museumsgründung in Weimar in eigene Forschungsansätze, einen internationalen Austausch, Sammlungserweiterungen usf. Wenn Sie so möchten, ergab sich die relativ spät greifende Auseinandersetzung mit dem Bauhaus also „unverschuldet“ durch die Wissenschaft. Gute KunsthistorikerInnen gab es immer auch in der DDR. Ironisch ausgedrückt: Schuldig sind wir als politische oder soziale Wesen natürlich alle.
Doch zurück zu den Aspekten Ihrer Frage, die einen ganzen Kosmos an für die Moderne und hier speziell für die 1920er Jahre relevanten Haltungen und Denkansätzen eröffnen. – Was genau ist ein „Architekturstil“? Die Baustilkunde liefert Fachleuten ein umfassendes Regelwerk aus historisch gewachsenen, technischen und ästhetischen Begriffen zur Analyse von Architekturen in unterschiedlichen Epochen. Stile mögen sich dort als historisch gesicherte Normen verfestigen, wo anhand von wiederkehrenden Merkmalen wie Verhältnisse von baulichen Volumina, Säulenordnungen, Fensterbändern, Fassadenzierrat, Dachkonstruktionen usw. eine zeitlich-stilistische Eingrenzung beispielsweise auf die Renaissance oder den Barock erfolgen kann. Ein Regelwerk, welches bei Gebäuden, die ohne jedes Ornament, das Fassaden schmückte und nach dem Baukastenmodell ineinander gesteckten Kuben und Quadern – so wie die Architektur am Bauhaus landläufig bis heute wahrgenommen wird – selbstverständlich kaum greifen kann. Offenbar hat die Moderne jene gerade beschriebene altehrwürdige Nomenklatur der Architekturgeschichte gesprengt und wurde für diese Zäsur nicht selten verachtet. Das „Neue Bauen“ war in den 1920er Jahren ein heiß umstrittenes Thema, deren unterschiedliche Fraktionen sich in den Medien der Zeit zum Teil wütende Debatten lieferten. Wie so oft, so liegt auch hier ein Erkenntnisgewinn in einer genaueren Betrachtung der Bauvorhaben: In Abgrenzung zu den nach dem Ersten Weltkrieg als kitschig-kolossal empfundenen Zumutungen der Gründerzeit ging es in den 1920er Jahren ergo weder um Ausschmückung oder obsolete wilhelminische Präsentationsgesten, noch um eine Zurschaustellung bürgerlichen Potenzgebarens – „Wir sind alle Kaiser“ –, sondern schlicht darum, sich den veränderten sozialen Strukturen einer neuen demokratischen Gesellschaft in der Weimarer Republik zu stellen. Die verlangte, so glaubte man damals, nach klaren Normen für ein sachliches Wohnen, das durch Gemeinden und Städte finanzierbar und für Arbeiter und Angestellte über ihren Mietzins erschwinglich war.