Der Vortrag befasst sich mit der Frage, warum nach der Vertreibung aus Köln 1424 nicht alles aus war für die davon betroffenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Auch nach anderthalb Jahrhunderten städtischer und territorialer Vertreibungen (1390 bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts), gab es noch jüdisches Leben im Reich. Mancherorts währte es bis in die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung. Aber die die jüdische Landkarte Europas änderte sich im 15. und 16. Jahrhundert grundlegend. Diese Vorgänge gingen mit Veränderungen in den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, teils sogar in den religiösen, kulturellen und alltäglichen Praktiken einher. Vor diesem Hintergrund kann es sinnvoll sein, sich mit individuellen Lebenswegen von Juden und Jüdinnen im Spätmittelalter auseinanderzusetzen.
Von der Kölner Ausweisung von 1424 waren mindestens 22 jüdische Haushalte betroffen. Der fast einjährige Vorlauf ermöglichte es ihnen immerhin, sich nach einem neuen Aufenthaltsort umzusehen. Nur von den wenigsten wissen wir freilich, wo und unter welchen Umständen sie später lebten: Ein paar Spuren führen in die Orte unter der Herrschaft des Erzbischofs und die benachbarten Territorien am Niederrhein; allerdings dürfte der Aufstieg der Deutzer jüdischen Gemeinde wohl erst später erfolgt sein. Einen deutlichen Effekt hatte die erzwungene Abwanderung aus Köln dagegen in der Handelsmetropole Frankfurt am Main.
Eine ganz neue Entwicklung hatte sich schon einige Jahrzehnte vor der Kölner Vertreibung in Oberitalien angebahnt. Denn in den 1380er Jahren tauchen dort vermehrt deutsche Juden auf, darunter auch Kölner oder ihre Nachfahren. Die Bedeutung der deutsch-jüdischen Diaspora in Oberitalien liegt, wie neuere Forschungen zeigen, in ihrer kulturellen Brückenfunktion für die jüdischen Geschichte Europas: Denn hier wurden Texte über die Geschichte, den örtlichen Ritus und die Gebräuche in der alten Heimat nördlich der Alpen verfasst, kopiert und gesammelt, hier entstand auch erstmals eine Literatur in jiddischer Sprache. Ein bedeutender Wanderer zwischen den Welten nördlich und südlich der Alpen war der Schreiber und Illuminator Joel ben Simeon, der wohl noch in Köln geboren war und nach der Vertreibung zunächst in Bonn lebte; später pendelte er zwischen Südwestdeutschland (Ulm) und Oberitalien.
Die Abwanderung deutscher Juden nach Polen im Spätmittelalter ist dagegen wohl bislang überschätzt worden. Erst unter dem kumulativen Effekt der Vertreibungen kommt es um 1500 zur Verbreitung und zum Anwachsen der jüdischen Siedlung in Polen. Von den Auswanderern kennen wir nur wenige. Anders als im Elsass, in Franken und in der Wetterau hat sich am Niederrhein auch zunächst kein „Landjudentum“ im Gefolge der Vertreibungen des 15. Jahrhunderts entwickelt. Denn die günstigen Voraussetzungend dafür – kleinräumige Herrschaftsstrukturen und/oder Nähe zum Reich bzw. zu den Habsburgern – fehlten hier.
Die „Resilienz“ jüdischen Lebens ausgehenden Mittelalter resultiert wohl daraus, dass Migration in der jüdischen Gesellschaft nicht erst mit Vertreibungen einsetzt, dass die Gemeinden vielmehr fluide und insofern auch flexible Gebilde waren. Die jüdischen Lebenswege waren oft davon abhängig, welche Ressourcen die jeweilige Familie aktivieren konnte.