In der gegenwärtigen Debatte über die Pläne zur Reform des europäischen Asylrechts wird mit historischen Bezügen nicht gespart. Pro Asyl etwa spricht von einem Asylkompromiss 2.0 in Anspielung auf jene Reform, mit der die damalige unionsgeführte Bundesregierung mit den Stimmen der oppositionellen SPD zu Beginn der neunziger Jahre das Recht auf Asyl eingeschränkte. Tatsächlich kann ein Rückblick auf den sogenannten Asylkompromiss von 1992/93 und die sich daran anschließenden Entwicklungen instruktiv sein, um das Verhältnis auszuloten zwischen staatlichem Anspruch, Fluchtmigration zu lenken, und den tatsächlich zur Verfügung stehenden Handlungsspielräumen.
Gefährliche Reformen. Ein Blick in die Geschichte asylpolitischer Reformprojekte
Ein Beitrag von Moritz Bothe, Emilia Henkel (FSU Jena) und Daniel Stahl (FAU Erlangen-Nürnberg)
Die Einschränkung des Asylrechts war ein Ziel, das die Unions-Parteien bereits seit den siebziger Jahren verfolgten. Vor dem Hintergrund steigender Asylbewerberzahlen Anfang der neunziger Jahre wandten sie sich diesem Projekt mit neuer Vehemenz zu. Mit kräftiger Unterstützung insbesondere der konservativen Medien betrieben sie ein Verwirrspiel mit Zahlen.
Mit viel Nachdruck verwiesen die Befürworter von Einschränkungen darauf, dass nicht einmal zehn Prozent der Asylsuchenden auf der Grundlage des Grundgesetzes politisches Asyl gewährt wurde und suggerierten auf diese Weise Handlungsdruck. Dabei verschwiegen sie, dass die deutschen Behörden knapp der Hälfte der Antragsteller ein Bleiberecht gewährten – etwa auf der Grundlage der Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergaben.
Um dieses Narrativ zu forcieren, entschied man sich in der CDU, Begriffe wie „Asylmissbrauch“ in die Debatte „einzuführen“. In einem auf diese Weise bewusst aufgeheizten Klima führten selbst die Pogrome von Hoyerswerda oder Rostsock Lichtenhagen nicht zu einer Mäßigung. Stattdessen schob die Regierungspartei die Verantwortung für die Steigerung der Asylbewerberzahlen der Opposition zu; Vertreter der Union sprachen öffentlich von „SPD-Asylanten“. Diese Strategie reüssierte und in der SPD gewannen nun auch diejenigen die Oberhand, die das Anliegen der Union teilten.
Im Dezember 1992 einigten sich die Spitzen der liberal-konservativen Regierungen und die sozialdemokratische Opposition auf eine umfassende Veränderung des in der Verfassung garantierten Grundrechts auf Asyl. Lautete Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes bis dahin schlicht „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, wurde dieses Recht zum 26. Mai 1993, in Hinblick auf die Frage, wer genau berechtigt war einen Antrag auf Asyl zu stellen, deutlich eingeschränkt.
Insbesondere der sogenannten „Drittstaaten-Regelung“ kam eine wichtige Rolle zu. Wer über einen als sicher erklärten Staat eingereist war, sollte fortan in Deutschland keinen Anspruch mehr auf Asyl genießen. Zu „sicheren Drittstaaten“ konnten allerdings nur jene Länder erklärt werden, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention sichergestellt war. Das traf auf sämtliche Nachbarländer Deutschlands zu.
Tatsächlich gingen nach Inkrafttreten der Grundgesetzänderung im Juli 1993 die Zahlen der Asylsuchenden aus den Hauptherkunftsländern Rumänien, Bulgarien, Türkei und Vietnam um mindestens die Hälfte zurück. Während im zweiten Halbjahr 1992 noch 250.736 Asylanträge gestellt wurden, waren es im zweiten Halbjahr 1993 nur noch 98.500. Doch nach wie vor stellten jeden Monat etwa 16.000 Menschen, die überwiegend aus Ost- und Südosteuropa kamen, einen Asylantrag. Die Zahl der Asylgesuche aus dem ehemaligen Jugoslawien, wo ein Bürgerkrieg tobte, wurde von der Gesetzesänderung gar nicht beeinflusst und es dauerte noch bis 1998, bis die Zahl an Asylanträgen unter die Marke von 100.000 sank.
Das Ziel des Asylkompromisses, die Ablehnung von Asylanträgen leichter zu machen, wurde ebenfalls verfehlt. Stattdessen nahm der Anteil von Ablehnungen an allen Asylentscheidungen ab 1993 kontinuierlich ab und die Anerkennungsquote des im Grundgesetz verankerten Asyls stieg sogar kurzfristig von 3,2 Prozent im Jahr 1993 auf 9 Prozent im Jahr 1995. Die Erklärung dafür ist nicht zuletzt in den Verpflichtungen zu suchen, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergaben. Trotz Drittstaat-Regelung mussten Asylanträge geprüft werden, wenn sich der Fluchtweg nicht zweifelsfrei rekonstruieren ließ – was oft der Fall war.
Doch auch die, die bleiben durften, bekamen die Härten der Asylrechtsverschärfung zu spüren. Das Asylbewerberleistungsgesetz schloss Asylsuchende von Sozialhilfe, Krankenversicherung und anderen Sozialleistungen aus. Von nun an standen ihnen außer einem monatlichen Taschengeld in Höhe von 80 DM (etwa 41 Euro) nur Sachleistungen oder Wertgutscheine zu. Damit waren sie in Entscheidungen über Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Wohnung völlig von der Verwaltung abhängig. Ihre medizinische Versorgung wurde auf ein Minimum reduziert. Die Bundesregierung hoffte, auf diese Weise Menschen vom Stellen eines Asylantrags abzuhalten.
Dieses Kalkül ging nicht auf. Stattdessen protestierten die Menschen, die aufgrund von Krieg, Verfolgung und Armut in ihrer Heimat dennoch weiter auf Asyl in Deutschland angewiesen waren, laut und ausdauernd gegen ihre Schlechterstellung. Sie erkämpften die Schließung besonders abgelegener und schlecht ausgestatteter Gemeinschaftsunterkünfte, die von Behörden verweigerte medizinische Behandlung und in Thüringen beispielsweise erreichten sie 2005 die Erweiterung der Schulpflicht auch auf Kinder im Asylverfahren.
Dabei kam ihnen entgegen, dass die Diskriminierung von Geflüchteten für die Behörden mit einem hohen Aufwand verbunden war. Geldleistungen und Einzelwohnungen waren in den meisten Fällen günstiger. Das Asylbewerberleistungsgesetz reduzierte die Kosten für die Unterbringung von Geflüchteten nicht, sondern steigerte sie. 2012 kippte das Bundesverfassungsgericht schließlich die Schlechterstellung der Asylsuchenden gegenüber Sozialhilfeempfängern.
Auch mit Blick auf die rechtliche Lage hat sich seit den frühen neunziger Jahren einiges verändert. Die Erweiterungen der EU 1995, 2004 und 2007 gingen einher mit einer stärkeren Verankerung menschenrechtlicher Normen im EU-Recht. Es waren nicht zuletzt die wechselnden Bundesregierungen, die diesen Prozess vorantrieben, stand er doch im Einklang mit einer Außenpolitik, die stets die Bedeutung von Multilateralismus und Regelgebundenheit internationaler Beziehungen betonte.
Diese menschenrechtliche Erweiterung betraf auch das Asylrecht. Die Forderung nach einer an der Genfer Flüchtlingskonvention orientierten Asylpolitik und das Verbot, schutzsuchende Menschen ohne eine Prüfung des Asylantrags abzuweisen, fanden nun auch Eingang in das europäische Regelwerk. Das blieb nicht folgenlos: Mehrere Urteile des Gerichtshofs der EU und des Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte haben bereits bewiesen, dass der Schutz der Rechte von Asylsuchenden einklagbar ist.
Als beispielsweise die italienische Küstenwache 2009 eine Gruppe von über 200 somalischen und eritreischen Flüchtlingen im Mittelmeer aufgriff und nach Libyen zurückbrachte, klagten 24 der Betroffenen erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die italienische Regierung wurde zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 330.000 Euro verurteilt. Das Urteil stellte eine entscheidende Stärkung des Non-Refoulement-Verbots dar.
Die Bedeutung solcher Urteile liegt nicht in ihrer überschaubaren finanziellen Dimension. Ihr eigentliches Gewicht entfalten sie dadurch, dass die nationalen Gerichte sich in ihrer Rechtsprechung mit ihnen auseinandersetzen müssen. EU-Recht und -Rechtsprechung haben deshalb auf vielfältige Weise Eingang in nationales Recht gefunden.
Die gegenwärtige Bundesregierung steht somit vor einem ähnlichen Problem wie in den neunziger Jahren: Ihre Möglichkeiten, die Zahlen von Asylbewerbern zu senken, sind völkerrechtliche Grenzen gesetzt – nicht zuletzt aufgrund des fest im internationalen und mittlerweile auch im europäischen Recht verankerten Verbots, Menschen ohne Prüfung ihres Antrags abzuschieben.
Doch anders als zu Zeiten Helmut Kohls geht es dieses Mal nicht um eine Reform des deutschen Rechts. Die von EU-Innenministern am Donnerstag ausgehandelten und von der Bundesregierung mitgetragenen Vorschläge zur Verschärfung des europäischen Asylrechts sehen eine weitreichende Aushöhlung des völker- und menschenrechtlicher Schutzes Geflüchteter vor. Sie ermöglichen es unter anderem, nun auch Länder als „sichere Drittstaaten“ einzustufen, in denen weder die Flüchtlingskonvention noch die europäischen Menschenrechtsstandards eingehalten werden.
Angesichts zahlreicher Kriege und der Folgen des Klimawandels ist es wenig wahrscheinlich, dass diese Maßnahmen dazu führen werden, die Zahl der nach Europa fliehenden Menschen deutlich abzusenken. Dennoch versucht Bundesregierung wie schon Anfang der neunziger Jahre genau diesen Eindruck zu erwecken. Und wie schon damals ist abzusehen, dass die Umsetzung der Reformpläne zur Marginalisierung schutzsuchender Menschen und zur Einschränkung ihrer Möglichkeiten, ein menschenwürdiges Leben zu führen, führen wird. Statt öffentliche Mittel in die Aufnahmekapazitäten zu stecken, stockt man den Etat einer Grenzschutzbehörde auf, die rechtlich gesehen asylsuchende Menschen nicht abweisen darf – obwohl sie es nachweislich tut und dabei Völkerrecht bricht.
Letztlich werden nicht allein die Schutzsuchenden durch diese Asylrechtsreform verlieren. Sie schwächt das Vertrauen in Politik, da die Bundesregierung einerseits Menschenrechte zu einem wichtigen Grundpfeiler deutscher Außenpolitik erklärt und ihre Einhaltung gegenüber anderen Staaten einfordert, während sie andererseits genau diese Rechte im eigenen Zuständigkeitsbereich aushöhlt.
Die Autorinnen und Autoren forschen zur Migrationsgeschichte und sind asylpolitisch engagiert.