Das kulturelle Imaginäre Lateinamerikas speist sich weitgehend aus der literarischen und filmischen Darstellung seiner großen Flüsse: Amazonas, Río de la Plata, Orinoco, Río Paraná, Río Magdalena, etc. Am einflussreichsten waren hier die Klassiker des lateinamerikanischen Romans der so genannten Boomjahre (zum Beispiel Alejo Carpentier, Los pasos perdidos, 1953; José María Arguedas, Los ríos profundos, 1958; Mario Vargas Llosa, La casa verde, 1965; und Gabriel García Márquez, El amor en los tiempos del cólera, 1985) und die entsprechenden Heterobilder des europäischen Kinos (z. B. Werner Herzog, Fitzcarraldo, 1982; Roland Joffé, The Mission, 1986; Carlos Saura, El Dorado, 1988), die sich zumeist auf die Phase der Eroberung und die Kolonialzeit konzentrieren.
Darüber hinaus gibt es auch eine echte lateinamerikanische Tradition des "Flussfilms", die von Dokumentarfilmen aus den 1930er Jahren bis zu aktuellen Beispielen reicht. Der Begriff "Flussfilm" kann jedoch nicht nur verwendet werden, um auf die Funktion von Flüssen im zeitgenössischen lateinamerikanischen Kino zu verweisen - als Element der Landschaft und der Infrastruktur, als geographisch-politische Grenze oder Träger symbolischer und mythologischer Bedeutungen -, sondern auch, um die Frage aufzuwerfen, ob es nicht eine grundsätzliche Affinität zwischen dem Fluss oder, allgemeiner, dem Wasser und dem Medium Film gibt, was seine Visualität, die Art seiner Wahrnehmung, das Verhältnis zu Raum und Zeit und nicht zuletzt die spezifischen Formen der Erzählung betrifft.
In seinem Beitrag analysiert von Tschilschke die Beziehung zwischen Fluss und Film in Lateinamerika aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive anhand von vier signifikanten Beispielen aus verschiedenen Ländern: Los muertos von Lisandro Alonso (ARG 2004), La León von Santiago Otheguy (ARG 2007), Historias extraordinarias von Mariano Llinás (ARG 2008) und El abrazo de la serpiente von Ciro Guerra (COL 2015). Der Fokus liegt dabei auf dem für den Flussfilm entscheidenden Spannungsverhältnis zwischen Topografie und Medialität. Die in der Arbeit betrachteten Aspekte reichen somit von einem kulturspezifischen, auf Lateinamerika fixierten Ansatz bis hin zu einem medienspezifischen, transkulturellen Ansatz.