Vor einigen Wochen hat der Historiker Jan Grabowski den Artikel „Germany Is Fueling a False History of the Holocaust Across Europe“ in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlicht. Davor hatte er ihn deutschen Zeitungen zur Veröffentlichung angeboten, aber keine wollte die deutsche Übersetzung publizieren. Nur der Tagespiegel veröffentlichte Auszüge aus Interviews mit Grabowski, Frank Bajohr, mir und einigen weiteren Historikern, bei denen es um den Artikel ging. Grabowski hat zur Sprache gebracht, was in der Holocaust-Forschung seit langem bekannt ist, aber in Deutschland nur ungern zur Kenntnis genommen und thematisiert wird. Er hat darauf hingewiesen, dass ein Aspekt der Schoah in Deutschland einseitig erforscht, dargestellt und unterrichtet wird und dass aus diesem Grund die deutsche Aufarbeitung des Holocaust mit Aufarbeitungsprozessen in anderen Ländern grundsätzlich nicht kompatibel ist. Bei dem Aspekt handelt es sich um Kollaboration bzw. die transnationale Täterschaft.
Der schwierige Umgang mit Kollaboration
Der Holocaust wird seit den frühen 1990er Jahren mit starker Konzentration auf die deutschen Täter erforscht. Dieser Entwicklung liegen verschiedene Ursachen zugrunde. Die wichtigste ist, dass der Judenmord bis in die frühen 1990er Jahren fast ausschließlich nur von jüdischen Historikern und Historikerinnen erforscht wurde. Deutsche, polnische oder nordamerikanische Historiker und Historikerinnen hat der Genozid an den Juden bis dann nur wenig interessiert. Erst in den 1990er Jahren wurde seine Relevanz für die europäische und ebenso für die deutsche, polnische, französische und andere nationalen Geschichten erkannt. In den frühen 1990er Jahren begannen deutsche Historiker und Historikerinnen den Judenmord intensiv zu erforschen, aber sie machten es stark im Kontext der deutschen Geschichte, wodurch ein spezifisches Bild des Holocaust in Deutschland und auch anderen Ländern verfestigt wurde. Der breitere Kontext des Holocaust spielte dabei ebenso wie eine transnationale Faschismusforschung fast keine Rolle. Die Täter des Holocaust wurden mit deutschen Tätern weitestgehend gleichgesetzt.
Ein Beispiel dafür, wie der Judenmord in dieser Zeit erforscht wurde, ist der Lemberger Pogrom vom Sommer 1941. Obwohl der Pogrom von drei Tätergruppen – den deutschen Besatzern, ukrainischen Nationalisten und der lokalen Bevölkerung – ausgetragen wurde, wurde dieses Ereignis in den 1990er Jahren in erster Linie als ein Mord der deutschen Besatzer an den Juden untersucht. Die Erforschung der Rolle der ukrainischen Nationalisten und der lokalen Bevölkerung wurde zu dieser Zeit nur am Rande vorgenommen, weil es damals darum ging, die Verbrechen der deutschen Besatzer bzw. Nationalsozialisten zu erforschen. Die damalige Wahrnehmung war, dass eine genaue und eingehende Erforschung des Verhaltens ukrainischer Nationalisten und anderer Ukrainer, die Schuld für den Holocaust auf andere nationale Gruppen übertragen und den Prozess der Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland gefährdet hätte. Ähnlich war es mit vielen anderen Aspekten der Holocaust- und Besatzungsgeschichte.
Die Frage, wie sich dieser Umgang mit dem Judenmord auf die ukrainische, polnische, slowakische und andere nationalen Geschichten und Aufarbeitungsprozesse in diesen Ländern auswirken wird, wurde damals nicht gestellt und war schlichtweg irrelevant. Obwohl sich seitdem einiges verändert hat und heutzutage niemand mehr bestreiten würde, dass der Lemberger Pogrom von drei Tätergruppen ausgetragen wurde, werden heute andere Aspekte des Holocaust ähnlich reduktionistisch thematisiert. Es ist zum Beispiel die Überzeugung verbreitet, dass die ukrainischen Nationalisten nur zwei oder drei Prozent der Juden in der Ukraine ermordet haben und der Rest den deutschen Besatzern zum Opfer gefallen ist. Die Tatsache, dass ukrainische Nationalisten und gewöhnliche Ukrainer als Polizisten, Dorfschulzen, Bürgermeister oder Nachtwächter zur Ermordung fast aller oder ganz vieler in der Westukraine lebenden Juden beitragen haben, wird heute grundsätzlich abgestritten.
Interessant daran ist, dass die reduktionistische Interpretation des Holocaust auf viel Interesse unter nationalen Politikern und Politikerinnen sowie Historikern und Historikerinnen in Ländern wie die Ukraine, Polen oder Ungarn stößt, weil sie ihnen hilft, die Schuld der lokalen Täter auf die deutschen Besatzer zu verschieben und den Holocaust als eine deutsch-jüdische Angelegenheit ohne die Beteiligung der lokalen Akteure darzustellen. Seitdem die PiS-Partei in Polen regiert, werden Historiker und Historikerinnen, die polnische Verstrickung in den Holocaust erforschen wie Barbara Engelking oder Jan Grabowski oder sich mit bestimmten Aspekten der jüdischen Geschichte wie Dariusz Stola beschäftigen, juristisch belangt oder an staatlichen Einrichtungen entlassen.
Das Pilecki-Institut, das auf dem Pariser Platz vis-à-vis dem Brandenburger Tor untergebracht ist und Werbung für die Geschichtspolitik der polnischen Regierung in Deutschland macht, ist unter deutschen Historikern und Historikerinnen teilweise beliebt, weil sein Narrativ mit dem deutsch-zentrierten Narrativ übereinstimmt. Es bestätigt, dass fast alle Juden in Polen von den deutschen Besatzern ohne die Beteiligung lokaler Kräfte ermordet wurden. Im Gegensatz dazu werden Historiker und Historikerinnen, welche den Holocaust in Polen oder der Ukraine vielschichtig und kritisch erforschen in Deutschland skeptisch betrachtet.
Deutschland hat die reduktionistische Erforschung gebraucht, um die eigene Geschichte des Holocaust, vor allem der deutschen Täter aufzuarbeiten. Auch stand in dieser Zeit die Erforschung der deutschen Täter allgemein im Zentrum der historischen Forschung. In den 1990er Jahren ging es darum, die Verbrechen der SS, Wehrmacht, Einsatzgruppen oder die Aktion Reinhard genau zu erforschen und die Bevölkerung darüber aufzuklären. Neben Historikern und Historikerinnen haben das unter anderem auch die Gedenkstätten, Schulen, Zeitungen und Fernsehen gemacht. Der Prozess der Aufarbeitung war sehr wichtig und notwendig, aber er hatte von Anfang an Schattenseiten, die bis heute in Deutschland nur ungern öffentlich thematisiert und debattiert bzw. gar wahrgenommen werden. Keiner weiß heute wirklich, wie mit ihnen umgegangen werden soll. Es ist zum Beispiel die Ansicht verbreitet, dass die Erforschung der nichtdeutschen Täterschaft oder Kollaboration nicht zur deutschen Geschichte gehört und dass diese Themen deshalb von nichtdeutschen Historikern und Historikerinnen erforscht werden sollten. Dabei wird aber übersehen, dass „deutsche“ von „nichtdeutschen“ Verbrechen in den allermeisten Fällen gar nicht getrennt werden können, weil die „deutschen“ und „nichtdeutschen“ Täter des Holocaust wie im Lemberger Pogrom oder bei der Ghettoisierung der Juden in Hunderten von osteuropäischen Städten eng zusammenarbeiteten.
Die Folgen dieses selektiven Umgangs mit dem Holocaust sind auf jedem Schritt und Tritt spürbar. Bis heute wissen die meisten Personen in Deutschland nicht, wie sie mit dem Thema der Kollaboration umgehen sollten. Allgemein tendiert man dazu, die Rolle der nichtdeutschen Täter zu marginalisieren, weil man damit auf der „sicheren Seite“ steht. Man unterstützt nicht die Rhetorik der AfD und distanziert sich von anderen rechten Parteien und Organisationen. Dass diese Position einseitig und kurzsichtig ist, ist nicht relevant. Als Jan Tomasz Gross‘ Studie über den Mord an den Juden in der polnischen Stadt Jedwabne veröffentlicht wurde, in der Polen ohne Anwesenheit der deutschen Besatzer ein Massaker an ihren jüdischen Nachbarn am 10. Juli 1941 begangen haben, ist seine Studie ebenso wie Omer Bartovs Buch über Buczacz oder Jan Grabowskis Buch über die „Judenjagden“ im Generalgouvernement auf geringes Interesse in Deutschland gestoßen. Alle drei Publikationen sind für die deutsche Geschichte nicht relevant, obwohl sie in anderen Ländern mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wurden und zu den wichtigsten Publikationen über die Schoah schlechthin gehören. Ihre Autoren und Autorinnen haben den Judenmord transnational erforscht und deutschen Tätern genauso viel Aufmerksamkeit wie allen anderen geschenkt. Damit haben sie die Komplexität des Holocaust zur Sprache gebracht aber deutsche Leser verwirrt, weil sie sich für deutsche Täter und nicht den tatsächlichen Verlauf des Judenmordes interessieren.
Deutschland trägt selbstverständlich eine besondere Verantwortung für den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg. Es ist auch wichtig zu betonen, dass die deutsche Besatzungspolitik zum Holocaust führte und Deutsche die Haupttäter des Holocaust waren. Man kann aber nicht den Holocaust nur auf Hitler, die Nationalsozialisten oder die deutsche Besatzung reduzieren, weil das die Geschichte der Schoah simplifiziert und einen spürbaren Schaden in Ländern wie Polen, Litauen, Ungarn oder der Ukraine anrichtet. Ebenso ist das einseitige Narrativ für den Umgang mit dem Holocaust in Deutschland nicht gut. Opfer, die nicht von deutschen Tätern oder nicht nur von deutschen Tätern ermordet wurden, finden in dem deutsch-zentrierten Narrativ keinen Platz bzw. es wird angenommen, dass sie der deutschen Besatzungsmacht zum Opfer gefallen sind.
Daher finde ich es wichtig, dass Überlebende oder Nachkommen von Überlebenden, die nicht von deutschen Tätern oder nicht nur von deutschen Tätern verfolgt oder ermordet wurden, die einseitige Darstellung des Holocaust mit ihren persönlichen Geschichten konfrontieren. Institutionen wie das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin oder das Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München eröffnen bereits die deutsche Geschichte des Holocaust auf die allgemeine und transnationale Geschichte der Schoah und reflektieren Aspekte der Kollaborationsforschung.
Deutsche Historiker und Historikerinnen sind im besonderen Ausmaß für die Erforschung der deutschen Täter verantwortlich. Auch kann niemand sie zur Erforschung der Kollaboration zwingen aber bei der Erforschung des Holocaust in Ländern wie Polen oder der Ukraine, kann man die Kollaboration oder die lokalen Täter nicht auslassen, ohne die Geschichte des Holocaust zu entstellen. Was dazu eventuell führt, dass deutsche Historiker und Historikerinnen die Kollaboration auslassen oder nur am Rande behandeln, ist der soziale Druck, der davon abgeleitet wird, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für den Holocaust trägt. Historiker und Historikerinnen, die Kollaboration erforschen, unterstützen, politisch gesehen, das Narrativ der AfD und anderen rechten Gruppen, welche Deutschlands Verantwortung für den Holocaust in Frage stellen und den Nationalsozialismus verharmlosen.
Kollaboration wird in Deutschland auch situativ unterschiedlich interpretiert. Wenn das Narrativ der AfD hinterfragt werden sollte, werden alle Täter des Holocaust als Deutsche präsentiert und die Verantwortung Deutschlands besonders betont. Wenn sich die Situation entspannt und keine Rechten in Sicht sind, kann man entspannt über die Kollaboration und die transnationale Täterschaft sprechen. Derzeit gibt es in Deutschland keinen Konsens, wie mit diesem Thema umgegangen werden soll, weshalb es in der Regel ausgelassen oder marginalisiert wird.
Das Ganze hat auch eine moralische und politische Komponente. Keine vernünftige Person würde abstreiten, dass Deutschland für den Holocaust verantwortlich ist und dass die Geschichte der Schoah ein zentraler Punkt der deutschen Geschichte ist. Bei der Frage aber, ob deutsche Historiker und Historikerinnen auch die Kollaboration erforschen sollten oder ob die Kollaboration in den deutschen Gedenkstätten thematisiert oder in deutschen Schulen unterrichtet werden sollte, würden viele nein sagen. Man würde davon ausgehen, dass man es nicht machen sollte, weil dadurch die deutsche Schuld für den Judenmord hinterfragt wird und die Ansichten der AfD unterstützt werden oder dass das für unsere Nachbarn beleidigend ist, die selbst Opfer der deutschen Besatzung waren. Es ist kein Wunder, dass polnische, ukrainische oder slowakische Holocaust-Historiker und -Historikerinnen den deutschen Diskurs über den Holocaust einseitig finden und immer wieder darauf hinweisen, dass er bestimmte Aspekte der Schoah leugnet.
Das Konzept der Kollaboration ist für die Erforschung des Holocaust und seine komplexe Darstellung wichtig, weil ein Großteil der Opfer des Judenmordes nicht ausschließlich nur von deutschen oder ausschließlich nur von nicht-deutschen Tätern, sondern infolge der Zusammenarbeit der beiden Gruppen ermordet wurde. Diese Konstellation war in allen besetzten Ländern wie Polen, Ukraine oder Litauen und teilweise auch in verbündeten Ländern wie Ungarn verbreitet. Was dabei jedoch nicht vergessen werden sollte, ist die Asymmetrie der Beziehungen zwischen den deutschen Besatzern und nichtdeutschen Tätern. Die deutschen Besatzer hatten in der Regel mehr Macht als ihre Kollaborateure und konnten den Verlauf des Holocaust in vielen Regionen Europas trotz ihrer geringen Anzahl die Politik maßgeblich beeinflussen. Das sollte jedoch nicht bedeuten, dass die lokalen Akteure den Verlauf der Dinge in ihren Gemeinden nicht steuern oder die deutsche Besatzung als ein Instrument zur Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn nutzen konnten. Dass die Gemeinden und Städte vom Holocaust überall in Europa profitierten, ist bereits bekannt und wird gerade immer intensiver erforscht. Eine andere Frage ist, dass viele Städte vor allem in Osteuropa durch den Krieg zerstört wurden.
Eine aktuelle gefährliche Entwicklung in dem Prozess der transnationalen Aufarbeitung des Holocaust ist das Bestreiten der Tatsache, dass der Judenmord seit den 1990er Jahren bis vor kurzem und teilweise sogar bis heute in Deutschland einseitig erforscht und thematisiert wird. Das Bestreiten dieser Entwicklung kann in Zukunft noch mehr Schaden anrichten. Menschlich ist es natürlich verständlich, dass man eigene Fehler nicht zugeben will. Damit man aber einen Schritt nach vorne machen kann, muss man die Fehler der Vergangenheit akzeptieren, unabhängig davon wie unangenehm sie heute erscheinen. Aus diesem Grund wird sogar behauptet, dass sich in Deutschland gar keine einseitige oder deutsch-zentrierte Holocaust-Forschung entwickelt hat. Dabei wird auf Historiker und Historikerinnen wie Franziska Bruder, Klaus-Peter Friedrich oder Christoph Dieckmann hingewiesen, die sich explizit mit der Kollaboration beschäftigt haben und den Judenmord vielschichtig untersucht haben. Es wird aber nicht erwähnt, dass diese Personen eine kleine Gruppe war, die grundsätzlich marginalisiert wurde oder dass die Erforschung der Kollaboration bzw. nichtdeutscher Täter ihre wissenschaftliche Karriere beeinträchtigte. Im Grund genommen erinnert das daran, wie in den 1960er und 1970er Jahren in Westdeutschland mit Joseph Wulf umgegangen wurde. Obwohl Wulf ein wichtiger Pionier der Holocaust-Forschung war, wurde er von seinen westdeutschen Kollegen ausgeschlossen und als ein Sonderling oder Störenfried verstanden. Jürgen Zarusky hat mir erzählt, dass er noch in den frühen 1990er Jahren gehört hat, wie Wulf als ein „schmutziger Ostjude“ bezeichnet wurde.
Der Übergang zu einer komplexen Holocaust-Forschung findet in Deutschland langsam statt. Die Umstellung bedeutet nicht, dass deutsche Historiker und Historikerinnen aufhören sollten, über die deutschen Täter zu arbeiten. Weitere Forschungen über den Nationalsozialismus, die deutschen Täter oder die deutsche Besatzung sind natürlich notwendig, aber sie sollten nicht a priori die Kollaboration ausschließen und sie sollten nicht nur im Kontext der deutschen, sondern auch der transnationalen, europäischen und globalen Geschichte vorgenommen werden. Teilweise ist das zum Beispiel in der monumentalen Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ gelungen, obwohl der Titel etwas anderes suggeriert. Besonders ergiebig sind mikrohistorische Studien, weil sie neues Licht auf alte Themen werfen und oft die Frage der Kollaboration oder andere relevante Fragen ans Licht bringen. Dass die Sache frisch und keineswegs abgeschlossen ist, zeigt unter anderem der Sammelband „Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung“, den 2015 das Zentrum für Holocaust-Studien herausgegeben hat und der viel in der Universitätslehre verwendet wird. Der Band thematisiert zentrale Aspekte der Schoah und ist an sich sehr gut und instruktiv, aber er enthält keinen Beitrag über Kollaboration oder die transnationale Täterschaft, selbst wenn diese Aspekte in einigen Beiträgen zum Vorschein kommen. Das ist nur eins von vielen Beispielen einer Entwicklung, die die Holocaust-Forschung in Deutschland zu einem Punkt geführt hat, den immer mehr Historiker und Historikerinnen sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern als problematisch sehen und ändern wollen.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Zudem gingen in Polen 1920 die nationalkonservativen Kräfte als Sieger hervor. Diese wollten ein eigenes Imperium errichten, das sich an der polnisch-litauischen Union orientierte, also Litauen mit einschloß. Dafür wurde sogar ein Krieg geführt, der aber nirgends auftaucht. Ebenso wenig wie der deutsch- polnische Nicht-Angriffspakt.
Das relativiert die deutschen Verbrechen in keiner Weise, macht aber klar, dass die Verwaltung der besetzten und annektierten Gebiete sowie die Durchführung von Verbrechen ohne die vielfältige und intensive Beteiligung und Zustimmung der Rechtskonservativen und Nationalkonservativen nicht möglich gewesen wäre.
Das aber ist für eine europäische Erinnerungskultur, die die Verbrechen der "Achse" in Afrika und Asien miteinschließt, unerläßlich.
Kommentar
Antisemitismus war und ist in Mittel und Osteuropa stark verbreitet, am Judenmord waren eben die rechtskonservativen und nationalen Gruppen als eigenständige Akteure beteiligt. So haben ukrainische Nationalisten und polnische armija krajowa gegenander gekämpft was niemand vom Judenmord abgehalten hat.
Das galt für Italien ebenso, zumal wenig beachtet wird, das auch in Äthiopien Juden gelebt haben, die in italienischen Lagern getötet wurden. Allein wäre das Reich nicht in der Lage gewesen, einen solchen umfangreichen Raubmord zu begehen.
Die Aktenlage ist eindeutig. Doch aus politischen Gründen eben aus diplomatischen Erwägungen stört die Erkenntnis schlichtweg. Das ist ebenfalls historisch und muss sich ändern.
Kommentar
Kommentar
Ich kann hier nur für mich sprechen: der "Tod war ein Meister aus Deutschland", um mit Celan zu sprechen. Ohne die von Deutschland ausgehenden Initialzündungen hätte der Antikommunismus und Antisemitismus in den besetzten Ländern nicht die massenmörderischen Qualitäten erlangen können. Von daher sollten wir öffentlich erinnerungspolitisch zurückhaltend sein, wenn es darum geht, anderen Ländern ihre Defizite vorzuhalten; zumal es noch genügend Nichtwissen und Probleme im eigenen Land gibt.
Auf der Expertenebene ist das etwas anderes. Aber hier passiert sehr viel! Um wiederum aus eigener Anschauung der letzten über zwei Jahrzehnte ein paar Ereignisse aufzuzählen: über ein UNESCO-Projekt haben Geisteswissenschaftler aus sechs Ex-Jugoslawienstaaten sich darauf geeinigt, welche Opfergruppen es gegeben hat, wer die jeweiligen Tatbeteiligten und wie hoch die Opferzahlen - soweit von der Forschung hier im Moment nachvollziehbar - waren; und das waren bei Leibe nicht nur Deutsche.
Vor fünf/sechs Jahren hatte ich (als IHRA-Delegierter) einen heftigen Diskurs über das von Maria Schmidt et al. erarbeitete Konzept des "House of Fates", weil dort Ungarn überhaupt nicht als Täter vorkommen. (Leider ist die IHRA im letzten Jahr gegenüber dem unwesentlich überarbeiteten Konzept eingeknickt.)
Seit drei Jahren habe ich eine heftige Kritik am "Haus der europäischen Geschichte", das in Brüssel vom Europaparlament verantwortet wird. Neben den großen Verbrechern Stalin und Hitler lautet das dortige Narrativ, die übrigen Nationen seien Opfer.
Diese Liste lässt sich noch lange fortsetzen und viele meiner Kolleginnen und Kollegen führen ähnliche Debatten.
Als ich im letzten Jahrtausend vor italienischen Partisanen in Prato einen Vortrag gehalten habe, bei dem die Wehrmachtverbrechen in Norditalien in den Zusammenhang der NS-Kriegsführung gestellt und am Ende darauf hingewiesen habe, dass mein Vater als Wehrmachtsoffizier in der Nähe in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten sei, ist ein Partisan aufgestanden und hat darauf hingewiesen, dass er von italienischen Polizisten verhaftet und dann den Deutschen übergeben worden sei.
Diese Geschichte macht für mich deutlich, dass wir erinnerungspolitisch zurückhaltend sein sollten, wenn wir anderen Ländern vorwerfen, sie würden sich nicht genügend mit ihrer Verbündeten- und Kollaborationsgeschichte befassen. Das fällt manchmal schwer, vor allem wenn rechtsnationalistische Regierungen diese Geschichtsklitterung brauchen, um ihre aktuelle Politik zu rechtfertigen. Zugleich ist der seriösen Zunft der Geschichte und Geisteswissenschaft, mit der ich es in Europa zu tun habe, die Tatsache, das NS-Deutschland ohne das Mittun vieler in den besetzten Ländern gar nicht die Möglichkeiten gehabt hätte, solche Kriegs- und Menschheitsverbrechen zu begehen, sehr bewusst.