Spätestens seit dem 18. Jahrhundert sind Flüsse Gegenstand der Forschung: in der Öffentlichkeit, in der Physischen Geographie, der Hydrologie, der Potamologie und nicht zuletzt im Kontext der Landnahme anderer Kontinente durch Europäer (Amazonas, Kongo, Mississippi, Missouri, Niger, Nil...). Die grundlegende soziale Frage, wie Flüsse Räume formen und wie (umgekehrt) Gesellschaften Flüsse formen und ihnen Bedeutung verleihen, hat jedoch noch keinen systematischen Platz in der wissenschaftlichen Forschung gefunden.
Der Vortrag von Frau Rau gibt einen kurzen Überblick über die Tendenzen in der historischen Flussforschung – nicht nur, weil dies 'ihre' Disziplin ist, sondern weil sich die historische Flussforschung in den letzten Jahren bereits weitgehend interdisziplinär geöffnet hat: Sie schließt archäologische oder geographische Befunde ebenso ein wie literaturwissenschaftliche und kunstgeschichtliche (inklusive Kartographie). In einem weiteren Schritt widmet sich der Vortrag dem Medium der Flusskarte und analysiert einige von ihnen (Sanson, Homann, Delagrive...) näher. Da Karten nicht einfach nur Raum abbilden, sondern zum einen selbst Raum repräsentieren und zum anderen entscheidend zur Wahrnehmung von Landschaften beitragen, könnte man auch sagen, dass sie zur Konstitution von Räumen beitragen.
Im Laufe der Frühen Neuzeit entstand in diesem Zusammenhang ein räumliches Paradoxon: Während die Kartographen aufgrund des verstärkten Einsatzes moderner Vermessungstechniken einen Anspruch auf Genauigkeit erhoben, erstellten sie Karten, auf denen sie mit der grafischen Darstellung von Einzugsgebieten, die auch die öffentliche Verwaltung zu nutzen wusste, Flussräume als physische Geographien (und die Suggestion natürlicher Existenz) konstruierten. Die Analyse dieser Karten kann aber nicht nur zeigen, wie Flussräume auf Karten entstehen, wie diese sogar in gewisser Weise essentialisiert werden, wie sie bestimmte Handlungen auslösen und geopolitische Strategien legitimieren, sondern auch, was diese Karten gleichzeitig verbergen. Letzteres ist kein Spezifikum von Flusskarten, sondern von jeder Karte als räumliches semiotisches System.
Daraus ergibt sich nicht nur die Aufgabe, über eine neue Kartensprache nachzudenken, was bei fließenden, sich ständig verändernden Objekten eine besondere Herausforderung darstellt; die Frage, wie Flüsse beschrieben und dargestellt werden, wie Flussgeschichten geschrieben werden, steht auch stellvertretend für die Frage, wie eine ständig "fließende Welt" (und ihre Geschichte), wie der permanente Wandel der aufeinander bezogenen Elemente unserer Welt - Flüsse, Räume und Gesellschaft -, der manchmal durch Versuche der Suspendierung unterbrochen wird, adäquat dargestellt werden kann.