L.I.S.A.: Wenn man dem Fußball eine mythische Kraft gerade auch im Politischen zuspricht, für wen genau ist er dann eine Ressource? Eher für das Bestehende oder eher für das Aufbegehrende?
Dr. Havemann: Wer die Deutungshoheit über die Sprache im Fußball besitzt und wer über die Macht verfügt, die im Sport erzeugten Bilder medial zu verbreiten und im Sinne der eigenen Interessen zu interpretieren, wird in der großen Weltenmetapher Fußball eine wichtige Ressource erblicken. Dies können diejenigen sein, die für das Bestehende sind, ebenso wie diejenigen, die das Bestehende aufzubrechen versuchen.
L.I.S.A.: Welches Feedback haben Sie auf Ihren Vortrag erhalten?
Dr. Havemann: Zur Dekonstruktion des Mythos vom „rechten“ DFB ist mir bislang kein Widerspruch bekannt. Die Ereignisse um die Weltmeisterschaft in Argentinien lassen sich anhand der Quellen mittlerweile sehr gut rekonstruieren, und solange keine neuen Dokumente auftauchen, die vielleicht wieder ein anderes Licht auf diese Geschehnisse werfen, dürfte es schwer sein, den Mythos vom „rechten“ DFB zu belegen. Dies gilt umso mehr, als die Forschung mittlerweile auch andere Geschichten (beispielsweise die angebliche „Sieg_Heil-Rede“ von DFB-Präsident Peco Bauwens nach dem Sieg bei der Weltmeisterschaft 1954), die im Zusammenhang mit dem „rechten“ DFB immer wieder verbreitet wurden, von mythischen Ausschmückungen befreit hat.
Worüber man sicherlich streiten kann, im Interesse eines vertieften Erkenntnisgewinns vielleicht sogar streiten muss, sind die weiterführenden Schlüsse, die ich auf der Konferenz aus der Dekonstruktion des Mythos gezogen habe. Denn meine Hypothese lautet, dass dieser Mythos unter anderem deshalb in die Welt gesetzt und so intensiv gepflegt wurde, um einen als „rechts“ stigmatisierten Verband zu einer „linken“ Sport- und Gesellschaftspolitik in dem Sinne zu bewegen, wie er sie seit etwa 2005 tatsächlich betreibt: Er hat sich, wie zahlreiche Aktionen, Kampagnen und Äußerungen seiner Repräsentanten bezeugen, dem gesellschaftlich verbreiteten „Kampf gegen rechts“ angeschlossen. Nun wird kaum jemand bestreiten, dass der Einsatz gegen Rassismus, Antisemitismus und Gewalt auch im Fußball eine wichtige und richtige Aufgabe ist. Allerdings hat der DFB dabei anscheinend nicht bedacht, dass Rassismus, Antisemitismus und Gewalt unter Personen oder Gruppen, die sich als „links“, „antikapitalistisch“ oder „antifaschistisch“ betrachten, ein ähnlich virulentes Problem darstellen, also keine Frage der politischen Ausrichtung oder (Selbst-)Etikettierung sind.
Die Folgerung daraus, nun auch den „Kampf gegen links“ auszurufen, wäre indes ebenso absurd, wie es der „Kampf gegen rechts“ ist. Denn zunächst gehören beide politische Richtungen zum breiten Meinungsspektrum, die von einer Demokratie gedeckt werden und erst dann zu sanktionieren sind, wenn Äußerungen oder Taten ihrer Repräsentanten gegen geltendes Recht verstoßen. Außerdem ist es auch im Fußball extrem schwierig, eine allgemein anerkannte Definition dafür zu formulieren, wo „rechtes“ oder „linkes“ Denken überhaupt beginnt. Solche politischen Kampagnen können daher rasch in Willkür umschlagen oder ins Lächerliche abgleiten. Um diese Gefahr zu verdeutlichen, möchte ich nur eine Streitfrage nennen, die bei einer solchen Diskussion um „rechts“ oder „links“ im Fußball zwangsläufig auftaucht: Ist es noch legitimer Wunsch nach Pflege lokaler, regionaler oder nationaler Identitäten oder schon gefährlicher Ausdruck von „rechtem“ Denken, wenn man in seiner Mannschaft anstatt vieler ausländischer Spieler lieber Akteure sieht, die der eigenen geographischen Heimat entstammen?
Dass sich ein Sportverband wie der DFB politisch derart einseitig im „Kampf gegen rechts“ positioniert hat, um das Stigma des „rechten“ Verbandes loszuwerden, ist aber noch aus drei weiteren Gründen nicht klug: Zunächst lädt er den Fußball damit auch parteipolitisch auf, was – wie die Diskussionen bei Eintracht Frankfurt zeigen, ob AfD-Wähler oder AfD-Sympathisanten Vereinsmitglieder sein dürfen – die große Gemeinschaft der Fußballfreunde zu zerreißen droht. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die Unterstützung für den „Kampf gegen rechts“ aufgrund der moralischen Aufwertung, die „linke“ Fangruppierungen daraus für sich ziehen können, hemmungslose „antikapitalistische“ Aggressionen, wie sie beispielsweise gegen Sponsoren wie Dietmar Hopp oder gegen Vereine wie RB Leipzig zu beobachten sind, zusätzlich begünstigt. Und nicht zuletzt geht der DFB ein beträchtliches Risiko ein, das für Sportverbände immer besteht, wenn sie den Wünschen der Mächtigen entgegenkommen: Niemand kann heute wissen, ob er mit seinen politischen oder gesellschaftlichen Ansichten auf der richtigen Seite der Geschichte steht, und was uns heute als unumstößlich wahr erscheint, kann sich schon in einigen Jahren unter dem Eindruck neuer Erfahrungen und Erkenntnisse als schrecklicher Irrtum erweisen. Von dieser Warte aus ist es zumindest diskutabel, ob Sportverbände nicht besser beraten wären, sich grundsätzlich den Ansprüchen der Politik zu entziehen. Ob sie dazu mit Blick auf ihre Neigung, selbst Ansprüche an die Politik zu stellen, überhaupt imstande sind, wäre die damit eng verbundene Frage.