L.I.S.A.: Der Fußballsport galt lange als bürgerliche Sportart. Wann und warum bildete sich der Arbeiterfußball heraus? Welche Rolle spielte dabei die Arbeiterbewegung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Wie hat sie den Fußballsport ideologisch gerechtfertigt?
Wolter: Da man zum Sporttreiben Freizeit und auch etwas Geld benötigt, hatten Adel und Bürgertum etwas Vorsprung auf diesem Gebiet. Das moderne Fußballspiel entstand zudem an englischen Privatschulen und Universitäten. Von 1872 bis 1882 gewannen nur gutbürgerliche Amateurvereine den englischen FA-Cup. Im Jahr darauf gelang mit Blackburn Olympic erstmals einem Team aus proletarischen Profi-Spielern dieser Erfolg. Dies markierte für den Fußball eine Wende, er entwickelte sich nun rasch zum Lieblingsspiel der Massen. Nach Blackburn Olympic gewann nie mehr ein Verein den FA-Cup, dessen Spieler so begütert waren, dass sie zur gesellschaftlichen Abgrenzung Sportamateure bleiben konnten.
Den Arbeiterfußball in unserem Sinne, also Fußball unter dem Dach eines proletarischen Sportverbandes gab es zuerst 1910 im deutschen Arbeiter-Turnerbund (ATB). Der ATB war angetreten, um das Angebot an deutschen Arbeiterorganisationen zu vervollständigen - eine Alternative zur bürgerlichen und kaisertreuen Deutschen Turnerschaft. Den Fußball nahm man ziemlich spät ins Programm, vor allem aus der Notwendigkeit, für die Jugend attraktiver zu werden. Der DFB existierte damals schon zehn Jahre und hatte bereits Meisterschaften, Länderpokale und Länderspiele ausgetragen.
Offiziell bekannte sich der ATB nicht zu politischen Zielen, da er sonst als politische Organisation eingestuft worden wäre. Er hätte somit keine Jugendabteilungen führen dürfen und es hätte die Verweigerung von öffentlichen Plätzen und Turnhallen gedroht. Tatsächlich kam es immer wieder zu solchen Benachteiligungen gegen einzelne Vereine, ab 1913 dann flächendeckend. Nach Kriegsbeginn wurden diese Erschwernisse im Zuge der Burgfriedenpolitik allerdings wieder zurück genommen.
Mit der Novemberrevolution kam die rechtliche Gleichstellung mit den anderen Sportverbänden. Der ATB, der 1919 in Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) umbenannt worden war, blieb SPD-nah und bekannte sich zum Sozialismus als seinem politischen Ziel - auf dem Wege der Evolution, nicht der Revolution. Dies führte natürlich zum Konflikt mit der kommunistischen Minderheit, so dass sich die Arbeitersportbewegung 1928 spaltete. Der ATSB bekannte sich nun offensiver zur SPD, während die neu entstandene Kampfgemeinschaft (KG) für Rote Sporteinheit, kurz Rotsport, von KPD-Funktionären geleitet wurde.
Der ATSB war in der Weimarer Zeit durchaus populär und anerkannt, so gab z. B. die Reichspost zum 2. ATSB-Turn- und Sportfest 1929 in Nürnberg einen Sonderstempel heraus. Und der ATSB-Fußballmeister von 1920, der TSV Fürth, wurde am Bahnhof von tausenden Gratulanten begrüßt und sogar im Rathaus vom linksliberalen Bürgermeister empfangen. In Hochburgen wie Leipzig und Dresden gab es zweitweise etwa gleich viele Arbeiter- wie DFB-Fußballer.
Der kommunistische Sportverband blieb dagegen ein Pariah, dem auch sozialdemokratische Kommunalpolitiker durch den Entzug von Sportanlagen und Fahrpreisermäßigungen Steine in den Weg legte. In der Endzeit der Weimarer Republik gehörte der ATSB zur Eisernen Front, der kommunistische Sportverband unterstützte natürlich den Rotfrontkämpfer-Bund und die "Antifaschistische Aktion".