L.I.S.A.: Emile Zolá schrieb über Balzac, er habe alles analysiert, die ganze Gesellschaft, Typ für Typ. Tatsächlich ähneln Balzacs Romane und Erzählungen einem Wimmelbild, in dem zig Figuren die Bühne betreten, um im nächsten wieder abzutreten und entweder in weiteren wieder aufzutauchen oder aber auch ganz zu verschwinden – so beispielsweise in seinem Roman „Verlorene Illusionen“: Literaten, Dichter, Journalisten, Buchhändler, Drucker, Papierfabrikanten, Soldaten, Bankiers, Geldwechsler, Kurtisanen und Kriminelle begegnen Marquisen, Baronen, Gräfinnen und Zofen. Wo steht Balzac selbst innerhalb dieser Typologie? Wo sehen Sie ihn, wo hat er sich selbst verortet?
Dr. Glocker: Ja, Balzac hat für seine „Menschliche Komödie“ weit mehr als 2000 Figuren geschaffen und hat von ihnen Typen abgeleitet. Über sein narratives „Kernpersonal“ verknüpft er die Romane und Erzählungen miteinander, so dass eine fluide erzählerische Großarchitektur mit enormer historischer Tiefenschärfe entsteht. Die Frage, wo Balzac selbst ihm Rahmen seiner Typologie steht, ist nicht leicht, nicht eindeutig zu beantworten. Wir alle spielen im Laufe unseres Lebens verschiedene Rollen, setzen unterschiedliche Masken auf. Väterlicherseits stammte Balzac von Landarbeitern, Bauern und Winzern ab, seine Mutter gehörte einer Familie von gutbetuchten Pariser Leinwandhändlern und Tressenfabrikanten an. 1819, in dem Jahr, in dem der junge Honoré, nach einem Jura-Studium, sich dazu entschloss, Schriftsteller zu werden, verurteilte ein Schwurgericht im südfranzösischen Tarn seinen Onkel Louis wegen Mordes zum Tod. 1834 wurde aus Honoré Balzac dann Honoré de Balzac: durch Selbstermächtigung. Er war nachgerade ein klassischer Aufsteiger und Parvenu, der über mehrere Jahre hinweg abgerissen herumlief und in üblen Absteigen logierte, binnen relativ kurzer Zeit jedoch begann, in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen zu verkehren, und wenige Monate vor seinem frühen Tod eine märchenhaft reiche polnisch-ukrainische Gräfin heiratete. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts betreibt er auf eigene Rechnung eine Druckerei, mit der er eine krachende Pleite hinlegt, er wird zum journalistischen und essayistischen Tausendsassa, der an der (Pseudo-)Wissenschaft seiner Zeit andockt, ist ein Lebemann und homme à femmes mit zahlreichen Affären, will in die Politik gehen, wird vom Liberalen zum Royalisten, versucht, zweimal erfolglos, Deputierter zu werden, lebt ständig über seine Verhältnisse, ist lebenslang hoch verschuldet und häufig auf der Flucht vor seinen Gläubigern, hegt den abenteuerlichen Plan, eine antike Silbermine auf Sardinien auszubeuten, was kläglich scheitert. Und so weiter. Vor allem ist er ein von Literatur, von seiner Literatur besessener Mensch, der die Nacht zum Tag macht und mit Hilfe des Treibstoffs Kaffee sein riesiges literarisches Universum schafft.
Balzac spiegelt sich in zahlreichen seiner Geschöpfe. Ich sehe ihn in erster Linie als begnadeten Autor. Als er bei der Niederschrift von „Le Père Goriot“ im Jahr 1834 damit beginnt, die einzelnen Bestandteile der späteren „Comédie“ über wichtige Figuren wie Vautrin alias Collin, den klugen Großverbrecher und Rebellen, den Bankier Nucingen, den Mediziner Bianchon, den zunächst verarmten Adligen Rastignac und andere mehr miteinander zu verknüpfen, schreibt er an seine Schwester Laure Surville: „Verneigt Euch vor mir, denn ich bin im Begriff, ein Genie zu werden!“ Keine Frage, mit dem Genie-Begriff sollte man sehr, sehr sparsam umgehen; doch hier ist er tatsächlich am Platz. Balzacs Gestalten leben und erhalten über die Romane hinweg vielschichtige Biografien. Honoré de Balzac hat die soziale Welt, und zwar die Außenwelt wie die Innenwelt, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie kein anderer in einem Oeuvre von riesigen Dimensionen vermessen und durchleuchtet, von den Bettlern und den Kleinhändlern der Markthallen über Handwerker, Kurtisanen, Künstler, Journalisten, Schriftsteller, Theaterleute, Richter, Anwälte, Ärzte bis hinauf zur Politik, zu Fürstinnen und Fürsten und zur Hochfinanz. Er war ein literarischer Historiker von hohen Graden und ein Vorläufer der Soziologie, der nicht nur seiner eigenen Epoche den Puls gefühlt, sondern darüber hinaus Gestalten von zeitloser Wucht geschaffen hat. Die Frage, wo Balzac sich selbst verortet hat, ist in kurzen Worten eigentlich nicht zu beantworten. Am ehesten scheint es mir möglich, wenn man auf seinen Dante-Bezug blickt, den er u. a. mit dem Titel seines Großwerks vornimmt. Er war kein Kind falscher Bescheidenheit und sah sich als einer der ganz großen Schriftsteller. Als solchen hat ihn auch Victor Hugo in seiner Grabrede am 20. August 1850 gewürdigt.