L.I.S.A.: Welche, vielleicht auch problematische Rolle spielt die Wissenschaft im Zusammenhang der Entstehung von Zeitnotstand?
Dr. Rinderspacher: In einem Kapitel beschreibe ich im Zusammenhang mit dem Phänomen des Alarmismus unter anderem jene christlichen Untergangs-Prophetien, die es immer gegeben hat und die den Gang der Welt nicht selten mitbestimmt haben – zumindest in ihrer nachträglichen geschichtlichen oder theologischen Interpretation. Die Epistemologie ist heute aber eine ganz andere, denn wir haben es ja mit wissenschaftlich begründeten Vorhersagen zu tun, an denen wir unsere Zukunft ausrichten, wenn wir den Klimawandel verhindern wollen. Das bedeutet, dass Vorhersagen inzwischen und unzweifelhaft eine völlig andere Qualität beigemessen wird – man traut sich kaum, sie in einem Atemzug mit Prophetien zu nennen, zumal die Wissensproduktion der Wissenschaft aufgrund ihrer allgemeinen methodischen Akzeptanz in unserer Rechtfertigungsordnung oder, um mit Foucault zu sprechen, angesichts des herrschenden Dispositivs in unserer Gesellschaft, als quasi unüberbietbar gilt. Das scheint mir richtig und falsch zu gleich. Falsch, weil jeder gute Wissenschaftler weiß, dass auch bei allen Anstrengungen nach faktenbasierter Evidenz die Erkenntnisse nur vorläufig gelten, also mit einem zeitlichen Verfallsdatum versehen sind, bedingt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse. Wissenschaft ist in diesem Sinne immer auch eine riskante Form der Wissensproduktion. Schon Jürgen Habermas hat in seinem bekannten, gleichlautenden Buch von 1968 darauf hingewiesen, dass Technologie und Wissenschaft in modernen Gesellschaften leicht ideologischen Charakter bekommen und damit keine aufklärerische Funktion mehr haben. Und natürlich bestehen Risiken, wenn sich die Politik auf Gedeih und Verderb darauf verlassen und deren Ergebnisse an Stelle politischer Entscheidungen stehen. Das gilt wie gesagt vor allem dann, wenn diese unterkomplex in Bezug auf die vielen anderen Ziele von Politik zu einer thematischen Überpriorisierung führen, bei der das vermeintlich eine und einzige große Ziel alle anderen Ziele für sich vereinnahmt.
Wissenschaft hat außerdem das Problem – wenn Sie mich nach positiven Narrativen fragen –, dass sie pointiert formuliert zwar Fakten, aber so, wie sie als exakte Wissenschaft betrieben wird, die die Gesellschaft vor der großen Katastrophe warnt, nur sehr vermittelt Hoffnung und schon gar keinen Glauben produzieren kann. Damit meine ich nicht unbedingt den christlichen Glauben, aber doch das irgendwie immer irrationale Element, das Menschen zum Handeln bewegt und optimistisch nach vorn zieht, somit immer weiter leben lässt.
L.I.S.A.: Wie zeigt sich das in der Praxis, wenn Hoffnung nicht funktioniert?
Bedenklich finde ich in diesem Zusammenhang, wenn, wie wohl auch gegenwärtig, weniger Kinder geboren werden, weil die potentiellen Eltern kein Vertrauen mehr in die Zukunft haben. Ich selbst bin wenige Jahre nach dem Krieg geboren und habe mich oft gewundert, dass meine Eltern nach den Bombennächten und dem anschließenden Hunger in Berlin sich noch positiv für mich entscheiden konnten. Und als Student habe ich erlebt, wie wir es abends in der Kneipe für unverantwortlich befanden, angesichts der atomaren Bedrohung noch Kinder in die Welt setzen. Manche haben sich daraufhin ja sterilisieren lassen.
Kurzum: Wir müssen uns auch wieder daran gewöhnen, dass wir scheitern können, gesellschaftlich und individuell, und dass Scheitern und Verluste ganz normal zum Leben dazugehören. Bestimmte Dinge hatten wir in unserer Wohlstandsgesellschaft, in der es für die meisten irgendwie ständig aufwärts ging, einfach verlernt. Das Alte Testament ist voller Geschichten, die eben diese spannungsgeladene Erfahrung wiedergeben, dass der Mut ebenso zum Leben gehört wie die Angst und das Leiden. Ich finde es gut, dass uns die gegenwärtigen Verhältnisse außer dazu, praktische politische Lösungen zu suchen, auch dazu drängen, uns auch wieder auf den Weg nach einer gemeinsamen Großen Erzählung zu begeben, die uns trägt. Und das selbst dann, wenn wir am Ende nicht zu den Nutznießern, sondern eher zu den Opfer der Krisen, Katastrophen, Kriege und sozialökologischen Transformationsprozesse gehören sollten. Das ist ein offener Prozess. Und was Ihre Frage nach einem neuen, positiven Narrativ angeht, ist es in einer diversen Gesellschaft wie der unseren, in der viele oft konträre Weltsichten aufeinandertreffen, sicher kein leichtes Unterfangen, eine relativ homogene Erzählung hinzubekommen, die möglichst wenige Gruppen ausschließt. Aber wir fangen ja auch nicht bei Null an.