Deutlicher und dezidierter als bisher sollten wir in Lehre, Forschung und Öffentlichkeit nicht nur unser „altes“ Wissen über die Entstehung, Verbreitung und Folgen rassistischer Gesellschaftsentwürfe verhandeln, sondern – gerade als Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker – das relativ „junge“ Wissen über das menschliche Genom und die erst seit der Jahrtausendwende empirisch erwiesene völlige Haltlosigkeit rassistischer „Theorien“ in historischer Perspektive zu fassen suchen; die Jenaer Erklärung aus dem Jahr 2019 sollte zur Standardlektüre nicht nur in zeit- und wissenschaftshistorischen Seminaren gehören. Gesellschaften lernen, aber sie lernen langsam, und wenn Wahrnehmungen, Diskurse und Praktiken zu entschlüsseln sind, die mit der Ausformung des modernen Wissenschaftsverständnisses über Jahrhunderte hinweg untrennbar verbunden waren – also mit den Voraussetzungen unseres heutigen Wirkens –, dann kann dies nur gelingen, wenn man den intellektuellen und gesellschaftlichen Kraftakt anerkennt, der für diesen Lernprozess aufzubringen ist.
Seit dem Polizeimord an George Floyd ist international in unserem Fach einiges in Bewegung gekommen, von dem wir uns nicht vorstellen können, dass es nicht auch Auswirkungen auf die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik haben wird. Am 3. Juni dieses Jahres gründete sich im Rahmen der amerikanischen German Studies Association ein Committee for the Initiative on Diversity, Equality, and Inclusion, und die britische Royal Historical Society, in der es seit 2017 eine Race, Ethnicity & Equality Working Group gibt, erklärte am selben Tag: „Racial and ethnic inequality is a pressing issue facing the historical discipline.” Die Royal Society hatte bereits 2018 einen bislang singulär gebliebenen Bericht zu Race, Ethnicity & Equality in der britischen Geschichtswissenschaft veröffentlicht, der eine traurige Bilanz mit einer klaren Handlungsperspekive rahmte: „In UK universities, Black and Minority Ethnic (BME) students and staff in History have disproportionately negative experiences of teaching, training and employment. [..] Our recommendations are based on the premise that the best way of tackling systemic racism within academia is to accept that it exists and that we are all responsible for playing a role in securing racial equality.“
Mit den genannten Stellungnahmen im Frühsommer häuften sich via E-Mail und Twitter Appelle an deutsche Kolleginnen und Kollegen, Antirassismus und Dekolonialisierung auch hierzulande als institutionelle Herausforderungen anzuerkennen. Und das zu Recht, denn es geht nicht nur um die Beseitigung bis heute fortwirkender struktureller, d.h. politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Folgen von Sklaverei und Kolonialismus, sondern um die überall zu gewärtigenden Formen von Rassismus und historisch gewachsener rassistischer Benachteiligung – eben auch in unserer eigenen (akademischen) Welt. Die Ankündigung des VHD, im Herbst 2020 im Rahmen zweier Onlinepanels zu „Rassismus – Krise – Erinnerung“ mit amerikanischen Kolleginnen und Kollegen „über Bildungsausschluss, konkurrierende Erinnerungsnarrative, Staatsgewalt und Protestbewegungen ins Gespräch kommen“ zu wollen, kann nur ein Anfang sein; von dem andernorts längst sichtbaren institutionell-systemischen Perspektivwechsel bleibt eine solche Initiative noch weit entfernt.
Gewiss, die bundesrepublikanische Zeitgeschichtsforschung hat sich seit ihren Anfängen als kritisch-aufklärerische Demokratiewissenschaft mit den rassistischen und antisemitischen Verbrechen des „Dritten Reiches“ befasst, auch wenn die post-nationalsozialistische Gesellschaft der 1950er Jahre lieber von „Rassenwahn“ sprach (um dessen unvertraute Ferne zu behaupten) als von Rassismus. Und ja, nach einer Weile begann man auch gegen die bequeme Einbildung anzuschreiben, dass Antisemitismus, Rassismus und das Bedürfnis nach gesellschaftlichen Ausgrenzung von Minderheiten mit dem Krieg zu Ende gegangen wären. Aber wie lange zum Beispiel hat es gedauert, bis die rassistischen, antikommunistischen, homophoben und minderheitenfeindlichen Ausgrenzungsregeln der von den Besatzungsmächten überhaupt erst angestoßenen Wiedergutmachungspolitik wirkungsvoll kritisiert und dann auch erforscht wurden? Ungeachtet einer florierenden Historiographie zur alten Bundesrepublik, zur DDR und inzwischen auch zum vereinigten Deutschland sind es bis heute kaum zeithistorische Arbeiten, sondern vor allem sozial- und politikwissenschaftliche Analysen und Erhebungen der Demoskopie, die über die Persistenz und Abrufbarkeit fortbestehender autoritärer und rassistischer Dispositionen Auskunft geben. Anders gesagt: Es gibt für die deutsche Geschichtswissenschaft mit Blick auf die Geschichte des Rassismus und Kolonialismus noch eine Menge zu tun – ganz zu schweigen von der zeithistorischen Erforschung des die gesamte Geschichte der Bundesrepublik durchziehenden Rechtsradikalismus und Rechtsterrorismus.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
„Die Allgegenwart von Rassismus zu konstatieren, bedeutet weder einen Generalverdacht zu erheben noch zu relativieren. Aber es eröffnet vielleicht den Weg zu jener dringend gebotenen Selbstverständigung über die alltäglichen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Miteinanders, gerade auch und ganz konkret in unserer akademischen Arbeit.“
Als Studentin der Geschichtswissenschaften an der Universität Bielefeld habe ich mich in den letzten Semestern u.a. mit der Geschichte des Kolonialismus und des Antisemitismus auseinandergesetzt. Aktuelle Feindseligkeiten gegenüber Migranten/Ausländern in Deutschland sind meines Erachtens von Ressentiments und inneren Vorbehalten gegen Minderheiten gespeist, die sich in kolonialen Denkmustern und antisemitischer Ideologie sozial, kulturell, religiös und politisch manifestieren. Und rassistische Mechanismen, die ich aus der Antisemitismusforschung kenne, lassen sich in der Diskriminierung anderer ethnischer und/oder religiöser Minderheiten beobachten. So gibt es neben einem „anti-jüdischen“ Rassismus viele Formen von Rassismus, die sich als „anti-afrikanisch“, „anti-muslimisch“ oder „anti-asiatisch“ bezeichnen lassen.
Obwohl ich hier in Bezug auf Dimension und Verbreitung von Feindseligkeit gegenüber (ethnischen) Minderheiten keineswegs eine Parallele zum genozidalen Antisemitismus des Nationalsozialismus ziehen will, ist die Bedrohung, die vom Alltagsrassismus ausgeht, real. Und analog erinnern die Mechanismen der Abwehr von Rassismusvorwürfen gelegentlich an das Abwehrverhalten derjenigen Deutschen, die sich seit 1945 im Angesicht des Völkermordes an den Juden von Schuld und dem vermeintlich damit verbundenen Leidensdruck befreien wollen:
„Das Unbehagen, als Glied in der Generationenkette an der historischen Verantwortung mitzutragen, beschwert viele, die daraus den Schluss ziehen, da sie keine individuelle Schuld trügen, ginge sie das schlimme Erbe der Nation persönlich nichts an. [...] dafür hoffen viele auf ein Ende der Erinnerung durch die zeitliche Distanz und andere auf Befreiung des Nationalgefühls vom Alptraum des historischen Judenmords durch Vergessen und Verdrängen oder durch Relativieren mit dem Hinweis auf die Sünden anderer.“ (Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? München 2004, S. 24).
Von Alltagsrassismus betroffene Menschen, die sich über eine Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft beschweren, müssen oft mit einem ähnlichen Mechanismus der Schuldabwehr rechnen wie heute in Deutschland lebende Juden, die gegen den wachsenden Antisemitismus protestieren. Sie treffen in ihrer Kritik nicht selten auf Unverständnis, das mit der Behauptung kombiniert wird, sie seien selbst daran schuld, dass ihr Verhalten Ressentiments hervorrufe. Dieses Muster wird unreflektiert auf Ausländer/Einwanderer/Menschen mit Migrationshintergrund übertragen: Ausländer sollten keinen Rassismus beklagen, sondern sich besser integrieren. Es verbreitet sich zudem auch in der Mehrheitsgesellschaft eine zunehmend geschichtsvergessene Haltung, die den Zusammenhang zwischen Rassismus und Gewalt nicht konsequent genug reflektiert.
In (zeit)-geschichtlicher Perspektive zeigt sich, dass der Rassismus eine Geschichte hat, die noch nicht vergangen ist. In Deutschland macht sich „Deutsch-Sein“ tendenziell immer noch nicht an der deutschen Staatsbürgerschaft (citizenship) fest, sondern an einer spezifisch deutschen kulturellen Identität, die jeder Zuwanderer erst erwerben muss, aber im Grunde niemals erwerben kann. Dazu hat er/sie angeblich das „falsche“ Aussehen, die „falsche“ Religion und das „falsche“ Bewusstsein. Im Grunde zeigt sich hier, dass das Konstrukt des ius sanguis, das lange Zeit deutsche Zugehörigkeitsvorstellungen zugleich reflektiert und geformt hat, noch lange nicht überwunden ist.
Abschließend möchte ich als Deutsche mit jesidischen Wurzeln betonen, dass persönliche Rassismuserfahrungen nicht der Phantasie oder Hypersensibilität eines „falschen“ migrantischen Bewusstseins entspringen. Als Schülerin und Studentin habe ich im hiesigen Bildungssystem ambivalente Erfahrungen gemacht: Einerseits habe ich von schulischen und universitären Lehrpersonen profitiert, die mich vielfach ermutigt und unterstützt haben. Andererseits wurde ich auch von Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet, die mir ein akademisches Potential von vornherein absprachen und meiner Mutter mitteilten, dass ich doch nicht auf das Gymnasium gehöre, sondern bestenfalls auf die Realschule. Mein Deutsch reiche für den erfolgreichen Besuch des Gymnasiums nicht aus. Am Gymnasium musste ich in der Erprobungsstufe gegen die Vorurteile einiger Lehrpersonen kämpfen, die mir trotz meines hohen Engagements im Bereich der sonstigen Mitarbeit konsequent schlechtere Noten gaben als eher passiven „deutschen“ Mitschülerinnen und Mitschülern.
Nun haben sich die Zeiten geändert. Nicht nur ältere deutsche Menschen machen mir auf dem Weg zur Universität Komplimente dafür, dass ich meine Muttersprache so gut beherrsche. Andere äußern ihr Erstaunen darüber, dass ich in so kurzer Zeit „so gut Deutsch gelernt“ habe, als wäre ich eine Einwanderin, die gerade das Flughafengelände verlassen hat. Ich bekenne angesichts solcher Erlebnisse, dass mich auch sicher nett gemeinte Kommentare – etwa über die hohe Integrationsfähigkeit meiner Familie („Deine Mutter spricht und kocht ja wie eine echte Deutsche!“) genauso irritieren wie xenophobe verbale Entgleisungen im Gewand eines widerwilligen Kompliments („Ihr seid wenigstens Schwarzköpfe, die nicht von Stütze leben“). Wirklich enttäuschend, wenn auch nicht überraschend, ist die Erfahrung, dass Klagen über alltagsrassistische Erfahrungen bei nicht-migrantischen Bekannten und Freunden immer wieder zu Abwehrreaktionen führen: Solche Empfindlichkeiten seien doch potentiell wehleidig und/oder beruhten auf einem kulturellen Missverständnis („Das bildest du dir ein, jetzt sei mal nicht überempfindlich“). Doch keineswegs handelt es sich hier um ein rein oder „typisch deutsches“ Phänomen. Während eines einjährigen Auslandsaufenthaltes wurde ich, wenn ich mich als Deutsche vorstellte, nicht selten nach meiner „echten“ Herkunft gefragt: „Where do you really come from? You don‘t look German at all!“ Da gewöhnte ich mir an, Bemerkungen wie diese als Kompliment aufzufassen.
Kommentar
Da hat die Frau Professor wirklich einen Bock geschossen.
Mit freundlichen Grüßen,
Michael Walter
Kommentar
Aha, weiter braucht man gar nicht mehr zu lesen. Antikommunistische Ausgrenzungsregeln - weil der Kommunismus mit 60 Millionen Toten und unsäglichem Leid ja so erstrebenswert ist. Frau Morina - fahren sie mal nach Nordkorea.
Es war die Ausgrenzung des Kommunismus, die am Ende die Freiheit gebracht hat.
Sorry, unfassbar hier solch Hanebüches lesen zu müssen.