Die Zeitgeschichte in Deutschland beginnt allmählich, Rassismus und Rechtsradikalismus/-terrorismus[1] zu erforschen. Die Relevanz der hier von Christina Morina und Norbert Frei initiierten Debatte, explizit unter Verwendung des Begriffs Rassismus geführt, kann deshalb kaum überschätzt werden. Die Verwendung dieses Terminus ermöglicht zum einen die Vernetzung mit der internationalen (hier: zumeist der angloamerikanischen) Forschung zu „race“ sowie mit deren Forschungsergebnissen. Zum anderen wird so die Verwendung anderer problematischer Begriffe wie „Ausländerfeindlichkeit“ vermieden. Denn das vorgebliche Anderssein dieser „Ausländer“ wurde oft mit kulturalistischen Codes begründet, deren rassistische Grundierung jedoch verdeckt wurde.[2] Darüber hinaus lassen sich unter dem Begriff Rassismus bisher einzeln benannte Phänomene (wie Xenophobie, Fremdenfeindlichkeit etc.) bündeln. Diese Bündelung ist deshalb möglich, weil der Begriff Rassismus weiter gefasst und mit gesellschaftlicher Ordnung verknüpft ist. Denn die mit ihm verbundenen Kategorisierungen sind Versuche, das Soziale in seiner Gesamtheit zu ordnen. Es geht nicht nur um das Verhältnis zwischen einzelnen Personen oder Personengruppen.
Rassistische Praktiken als Probleme zeitgeschichtlicher Polizeiforschung
Möglichkeiten einer kooperativ-reflexiven Interdisziplinarität
„Rasse“ und „race sind keine Tatsachen, sondern Ausdruck rassistischer Zuschreibungen.[3] Diese Zuschreibungen und damit die Ausprägungen von Rassismus sind nicht gesellschaftlich einheitlich, sondern können in verschiedenen Settings mit Blick auf Inhalt und Intensität durchaus unterschiedlich sein. Maria Alexopoulou verweist für die Zeit nach 1945 nachdrücklich auf das Fortbestehen rassistischen Wissens in Deutschland.[4] Wie weit rassistische Ansichten gesellschaftlich derzeit genau verbreitet sind, ist schwer festzustellen, aber es gibt zumindest Schätzungen, die 2018/19 von etwa 15 bis 30 Prozent fremden- bzw. ausländerfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung ausgehen.[5]
Wenn weder das kritisch-reflektierte Sprechen über noch die (geschichts)wissenschaftliche Erforschung von Rassismus (unter expliziter Verwendung dieses Begriffs) in Deutschland mit Blick auf die Zeit seit 1945 fest etabliert sind, betreffen beide Defizite logischerweise auch gesellschaftliche Organisationen - hier: die Polizei. Deshalb sollten pauschale Be- wie Entschuldigen unbedingt vermieden werden. Denn für eine zeithistorische Analyse der verschiedenen Zweige der bundesdeutschen Polizei gelten die oben angesprochenen Forschungsdefizite noch weit mehr; denn die Polizei war (und ist) ohnehin kein gut bestelltes Themenfeld in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Sozialgeschichtliche Analysen der Polizei und ihrer Tätigkeit, oft verbunden mit der Historischen Kriminalitätsforschung, begannen in den 1980er Jahren Konturen anzunehmen. In den frühen 2000er Jahren wurde diese Ausrichtung um kulturgeschichtliche Perspektiven erweitert.[6] Die soziologische Erforschung der westdeutschen Polizei setzte deutlich früher ein, angeregt durch angloamerikanische Studien. Seit den frühen 1970er Jahren wurden wichtige Ergebnisse publiziert.[7] Leider fehlt nach wie vor eine translokal wie transnational fundierte Sozial- und Kulturgesichte der Inneren Sicherheit und ihrer Institutionen.
Wenn es darum geht, Rassismus in Staat und Gesellschaft (seit 1945) und damit verbundene rechte bis rechtsradikale Praktiken auch geschichtswissenschaftlich zu erforschen, rücken die Institutionen der Inneren Sicherheit (auch die Polizei) in den Vordergrund. Denn diese Sicherheitsorganisationen sind auch dafür da, gegen Rassismus und Rechtsradikalismus einzuschreiten. In den letzten Jahren haben die zahlreichen Aufklärungsversuche der Straftaten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) dazu beigetragen, das Verhältnis von Sicherheitsorganisationen zu rechten und rassistischen Milieus zu problematisieren.[8] Seitdem der Afroamerikaner George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis bei einem Festnahmeversuch durch Gewaltanwendung weißer Polizisten erstickte, rückten Fragen nach rechten und rassistischen Praktiken in der Polizei ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit. Dies gilt umso mehr als seit Sommer 2020 über rechte Gesinnung innerhalb der Bundeswehr Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) und dann vor allem über rechte und rassistisch grundierte Chatgruppen und Netzwerke in verschiedenen Polizeiorganisationen berichtet wurde. Derzeit werden vor allem rechtes bzw. rassistisches Gedankengut und Ideologieelemente (in Wort- und Schriftform) und darauf fußende Vernetzungen in den verschiedenen polizeilichen oder anderen staatlichen Dienststellen (einschließlich der Bundeswehr) untersucht und öffentlich diskutiert. Es ist jedoch sehr wichtig zu fragen, ob bzw. inwieweit die dienstlichen Praktiken von Polizist*innen davon beeinflusst werden.[9]
Rassistische Praktiken sind mehr als nur individuelle Aktivitäten. Sie sind eingebettet in und verflochten mit anderen Praktiken. Das Zusammenwirken all dieser Praktiken formt die Kultur der jeweiligen Organisation, in diesem Fall die Kultur der Polizei,[10] die in verschiedenen Zweigen der Polizei durchaus unterschiedlich konturiert sein kann. Die Kultur der Polizei überdauert oft organisatorische und technische Veränderungen. Sie umfasst informelle Verhaltenscodes, Bedeutungszuschreibungen und Ordnungsvorstellungen ebenso wie Symbole und Rituale, aber auch die polizeiliche Sprache mit ihren Redewendungen, Metaphern und Erzählungen sowie materielle Elemente wie Formulare und die darin vorgegebenen Kategorien. Die Kultur der Polizei kann in ein Spannungsverhältnis geraten zu den Rechtsnormen und polizeilichen Dienstvorschriften, denn sie ist nicht deckungsgleich mit beiden. Der vorliegende Beitrag skizziert einige Ansatzpunkte für geschichtswissenschaftlich fundierte interdisziplinäre Forschungen, die überprüfen, ob bzw. inwieweit es welche rassistischen Praktiken in der Polizei gibt bzw. wie diese ggf. in der Kultur der Polizei in Deutschland verankert sind. Der Blick auf die Polizei in England der 1980/90er Jahre trägt dazu bei, die Situation in Deutschland besser einordnen zu können.
Kooperativ-reflexive Interdisziplinarität: Geschichtswissenschaft und aktualitätsbezogene Polizeiforschung
Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind sich einig: Wir benötigen unbedingt umfassendere Kenntnisse über das Binnenleben der verschiedenen deutschen Polizeizweige. Behördliche Lageberichte bilden nur allererste Schritte in diese Richtung.[11] Nur durch unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen kann die Debatte über mögliche rassistische Potentiale in der Polizei auf eine solidere Basis gestellt und Wege gebahnt werden, um etwaige Missstände zu beheben.[12] Polizeiforschung ist jedoch nicht leicht zu bewerkstelligen. Zum einen sind Forschende mit Vorurteilen, Skepsis bis hin zu politisch motivierten Verhinderungsversuchen konfrontiert, und zum anderen ist – als Folge davon – der Zugang zu Daten und anderen Materialien nicht leicht. Durch diese beiden Hürden kann das, was über die Polizei gesagt, gedacht und auch geforscht wird kontrolliert und möglichst eng gefasst werden. Veränderungsimpulse und Kritik lassen sich so schon im Vorfeld diskursiv einhegen.
Wichtige Ausgangsfragen der Erforschung von Polizei wären: Erstens, welche Zweige der Polizei sollen untersucht werden? Geht es um die Polizei der Länder, wenn ja um welche Einheiten: Stehen Revierbeamte und -beamtinnen, Kriminalpolizist*innen oder Mitglieder der Sonder- oder Mobilen Einsatzkommandos oder der Bereitschaftspolizei im Mittelpunkt? Oder wird die Bundespolizei analysiert? [13] Zweitens, welche Aspekte von Polizeiarbeit sollen analysiert werden? Geht es um den Revierdienst, dessen Routinetätigkeiten den zeitlich weitaus größten Teil der Polizeiarbeit umfassen oder eher um anteilsmäßig weniger häufige Großeinsätze aus Anlass von Sportereignissen, Protesten und Demonstrationen? Drittens, was sind die genauen Kriterien, um rassistische Praktiken in der Polizei zu beurteilen? Mit welchen anderen Berufsgruppen oder Organisationen wird die Polizei bzw. das Agieren von Polizist*innen verglichen? Zugespitzt formuliert: Wann und warum ist das Glas halbvoll, wann und warum ist es halb leer? Ganz allgemein sollten zwei miteinander gekoppelte Besonderheiten beachtet werden: Die Polizei ist eine bürokratische Organisation und Inhaberin des staatlichen Gewaltmonopols nach innen. Schon durch diese Merkmalkombination ist der Polizeiberuf kein Beruf wie jeder andere. Sind diese Punkte geklärt, kann untersucht werden, ob, wann und unter welchen Bedingungen welche rassistischen Praktiken entstehen, sich verfestigen und sich verändern.
Die Analyse der heutigen Polizei und ihrer Kultur sowie darin eventuell eingebetteter rassistischer Praktiken liegt vorwiegend in Händen anderer Fachdisziplinen (v.a. Soziologie, Kriminologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft). Eine geschichtswissenschaftliche Fundierung dieser aktualitätsbezogenen Polizeistudien ist dringend notwendig! Dies gilt umso mehr angesichts der sehr beharrungsfähigen Kultur der Polizei, die durch Momentaufnahmen kaum angemessen entschlüsselt werden kann. Doch was kann die geschichtswissenschaftliche Forschung konkret zur Untersuchung rassistischer Praktiken in der Polizei beitragen?
Grundsätzlich benötigen auch Geschichtswissenschaftler*innen freien Zugang zu allen Unterlagen sowie uneingeschränkte Auswertungs- und Publikationsmöglichkeiten. Dann können Historiker*innen im Rahmen einer kooperativ-reflexiven Interdisziplinarität dafür Sorge tragen, die von älteren zeitgenössischen Studien zu verschiedenen Zeitpunkten erarbeiteten Ergebnisse, durchaus auch zur Polizei anderer Länder, wieder in den wissenschaftlichen Diskurs einzuspeisen. Diese Reaktualisierung sichert das über lange Jahre erarbeitete Wissen. Dadurch wird es möglich, diese Erkenntnisse zu kontextualisieren und zu historisieren, d.h. sie in zeitgenössische Kontexte sowie in längerfristig wirkende Entwicklungen einzuordnen. Darüber hinaus steht das so gesicherte, reaktualisierte, kontextualisierte und historisierte Material für die Erarbeitung von Fragen bereit, die auf die heutige Situation ausgerichtet sind, aber die historische Entwicklung einbeziehen. So können Perspektiven, die zu eng auf das jeweilige Heute oder nur auf die unmittelbar davor liegenden Jahre bezogen sind, aber auch scheinbare ‚Neuentdeckungen‘ vermieden werden. Durch ihre an Wandlungen im Zeitverlauf orientierten Fragstellungen können Geschichtswissenschaftler*innen dazu beitragen, zu klären, ob bzw. inwieweit die durch aktuelle Momentaufnahmen generierten Erkenntnisse Komponenten längerfristiger Trends oder völlig neuartig sind. Schließlich lassen sich, wird die geschichtswissenschaftliche Forschung nicht als bloße Zuarbeit für Studien aus anderen Fachdisziplinen verstanden, durch diese kooperativ-reflexive Interdisziplinarität Wandlungen, Umschlagspunkte und Zäsuren klar benennen - auch durch den Vergleich mit anderen Ländern sowie durch Einbeziehung transnationaler Transferprozesse.
Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sind unter Einbeziehung zeitgenössischer soziologischer Arbeiten bisher Ausbildung, Alltagsdienst (inkl. Ermittlungstätigkeit) sowie Großeinsätze gegen studentische und Jugendproteste der Polizei in der Bundesrepublik sowie auch das Bundeskriminalamt nach 1945 untersucht worden.[14] Für die uniformierte Polizei sind für die 1960er und frühen 1970er Jahre fünf charakteristische Merkmale der Kultur der Schutzpolizei herausgearbeitet worden. Stichworte sind: Starke Definitionsmacht im Dienst vor Ort (1), charakteristische Ausbildung (2), Suche nach Ordnung(smustern) (3), hochkohäsive Kleingruppen (4) sowie Leitbilder harter Männlichkeit (5).
Erstens, Polizist*innen verfügen über eine starke Definitionsmacht, um vor Ort zu entscheiden, wann sie einschreiten und wann nicht. Diese Definition der Situation vor Ort fußt neben rechtlichen auf personen- und erfahrungsbezogenen Indikatoren, die Polizisten*innen abrufen, um bei Straßenstreifen u.ä. Personen als „verdächtig“ oder „gefährlich“ einzustufen. Zweitens war die Polizeiausbildung der 1960/70er Jahre stark von der kasernierten Eingangsphase bestimmt. Die dort erlernten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster prägten die Polizisten und wirkten zeitlich sehr lange nach. Demgegenüber blieb die Einführung in den alltäglichen Routinepolizeidienst auf den Dienststellen vorwiegend informell geregelt. Mit Blick auf die kasernierte Eingangsphase deutet sich an, dass die seit den 1970er Jahren eingeleiteten Reformen viele Probleme (wie Ausgrenzungen, informelle Bestrafungsrituale, Demütigungen) beseitigt haben. Demgegenüber scheinen heute die informelle Ausbildung und Sozialisation auf den Revieren und in Polizeieinheiten diejenigen Bereiche zu sein, deren informell codierten Grauzonen kaum von außen durchschaubar und kontrollierbar sind.[15] Drittens war die Suche nach einer klaren Ordnung im Dienst und darüber hinaus ein Kernelement im Wertekosmos vieler Polizisten. Bis in die frühen 1970er Jahre wurden diese Ordnungsvorstellungen durch einen über allem stehenden abstrakt verstandenen Staat verkörpert. Wie erste Erkundungen andeuten, wurde dies dann überlagert von einer Ausrichtung an einem sehr stark juristisch-formal geprägten Verständnis von Rechtsstaat. Seitdem war die Kommunikation von Polizist*innen noch stärker juristisch codiert und durchzogen von dichotomischen Mustern wie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Hier bleibt zu klären, ob bzw. inwieweit die seit den späten 1980er Jahren einsetzenden Debatten über den Bedeutungsverlust des Staates in einer von der Globalisierung geprägten Welt, Orientierungslücken gelassen haben, in die dann auch rechte und rassistische Praktiken leichter vordringen konnten.
Viertens sind das Vorhandensein und die einsatzbezogene situative Formierung bisweilen hermetisch abgeschlossener Kleingruppen, die sich nach oben und außen abschotten, sowie, fünftens, die Auswirkungen eines dort wirkenden resoluten Männlichkeitsideals, orientiert an Tatkraft, Mut und Härte, wiederholt herausgearbeitet worden.[16] Ausgangspunkt für diese beiden Ergebnisse war speziell die Frage, warum Polizeieinsätze der 1960er Jahre gegen als politisch eingestufte Proteste so ineffektiv waren. Die Einsätze waren kaum steuerbar und es kam zu unangemessener Gewaltanwendung. Vor allem Letzteres führte zu zahlreichen organisatorischen, technischen und taktischen Reformen, die jedoch auf eine langlebige und wenig wandlungsfähige Kultur der Polizei trafen. Logischerweise lassen sich diese auf die 1960/70er Jahre bezogenen Erkenntnisse nicht umstandslos auf die heutige Polizei übertragen. Sie können aber Ansatzpunkte bieten, um rechte und rassistische Praktiken innerhalb der heutigen Polizei sowie deren Wandlungen zu untersuchen.
Rassistische Praktiken und die Kultur der Polizei in England der 1980/90er Jahre
Vergleichende und transferorientierte Perspektiven sind, wie bereits angedeutet, für eine reflexiv-kooperative und interdisziplinär ausgerichtete Polizeiforschung hilfreich. Die geschichtswissenschaftliche Suche nach bereits vorhandenem Wissen über das Themenfeld Polizei, ihre Kultur und über eventuell darin eingebettete rassistische Praktiken lenkt den Blick auf England. Dort wurden Rassismusvorwürfe gegen die Polizei sowie Kritik an ihrem Einsatzverhalten schon in den 1980er Jahren erhoben und zwei umfassende parlamentarische Untersuchungen publiziert. Letztere wurden öffentlich breit diskutiert, von Wissenschaftler*innen und Politiker*innen wie von Polizist*innen. Im November 1981 wurde der Scarman-Report publiziert. [17] Unter Leitung von Lord Leslie George Scarman wurden darin die Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton vom April 1981 daraufhin analysiert, wie die Gewalt bei den urbanen Unruhen in London eskalieren konnte und welche Rolle die Polizei dabei gespielt hat. Vor allem die als diskriminierend empfundenen Kontroll- und Festnahmepraktiken der Polizei hatten zur Eskalation beigetragen. Der Bericht schlug vor, die Polizei besser auszubilden und verstärkt Polizisten aus ethnischen Minderheiten einzustellen, verneinte jedoch einen institutionellen Rassismus in der Polizei.[18] Die zweite, wegen ihrer Rückwirkungen auf die Polizei weit wichtigere Studie wurde im November 1999 vorgelegt von Sir William Alan Macpherson of Cluny.[19] Es ging um den afrokaribischen Jungen Stephen Lawrence, der von einer Gruppe weißer Jugendlicher im April 1993 ermordet worden war. Untersucht wurde, ob bzw. inwieweit die polizeilichen Ermittlungen durch rassistische Praktiken (in) der Polizei behindert wurden.
Vor allem der Macpherson-Report verdeutlichte fünf Punkte über den Umgang mit rassistischen Praktiken - vor allem (aber nicht nur) in der Polizei. Erstens bestanden auch im England der 1990er Jahre ähnlich wie in der aktuellen deutschen Debatte zunächst massive Bedenken gegen eine gründliche Untersuchung der Polizei von außen. Auch dort wurde anfangs der Selbstreinigungskraft der Organisation vertraut, die Bedeutung von Einzelfällen diskutiert und erörtert, ob solche Analysen eventuell einen Generalverdacht gegen alle Polizisten transportieren oder gar das Vertrauen in die Polizei erschüttern würden. Die Ergebnisse des Macpherson-Reports trugen aber dazu bei, diese Bedenken und politische Zögerlichkeiten zu überwinden. Zweitens nutzte der Bericht explizit den Begriff „institutioneller Rassismus“, der wie folgt definiert wurde:
“The collective failure of an organisation to provide an appropriate and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin. It can be seen or detected in processes, attitudes and behaviour which amount to discrimination through unwitting prejudice, ignorance, thoughtlessness and racist stereotyping which disadvantage minority ethnic people. It persists because of the failure of the organisation openly and adequately to recognise and address its existence and causes by policy, example and leadership. Without recognition and action to eliminate such racism it can prevail as part of the ethos or culture of the organization.” [20]
So konstatierte die Kommission im Jahre 1999 eindeutig, dass es institutionellen Rassismus gab, nicht nur in der Londoner Polizei, dem Metropolitan Police Service (MPS), und in anderen Polizeiorganisationen, sondern landesweit auch in anderen Institutionen.[21] Wie drittens deutlich wurde, waren zuvor zwei polizeiinterne Versuche gescheitert, die gegen die Polizei gerichteten Beschuldigungen aufzuklären. Aufklärung brachten somit erst massive Anstöße von außen.[22] Im Februar 1999 akzeptierten der damalige Innenminister Jack Straw und auch der Londoner Polizeichef, Sir Paul Condon, sowohl die Definition des institutionellen Rassismus als auch die Ergebnisse der Kommission.[23]
Viertens veränderten die implementierten Maßnahmen die Sprache innerhalb der Polizei. Wie selbst kritische Forschungen einräumten, wurden rassistische Formulierungen seitdem vermieden. Fünftens hatte die praktische Umsetzung, der vom Macpherson-Report vorgeschlagenen Polizeireformen jedoch eng gesteckte Grenzen. Zum einen konzentrierten sie sich auf das Binnenleben der Polizei, galten weit weniger dem Verhältnis zwischen der Polizei und den von ihren Maßnahmen betroffenen Communities.[24] Zum anderen stand die Veränderung der Kultur der englischen Polizei mit ihren Praxisroutinen und kulturellen Codes, die diesen rassistischen Mustern sowohl zugrunde lagen als auch von ihnen geprägt wurden, nicht im Zentrum der Reformen. Vielmehr lag der Fokus der Maßnahmen stark auf individuellem rassistischem Verhalten, weniger auf anderen Diskriminierungen (gegen Frauen oder Homosexuelle).
Aus (geschichts-)wissenschaftlicher Sicht ist die Orientierung am Begriff „institutioneller Rassismus“ ein erster Schritt, der immer wiederkehrenden Betonung des Fehlverhaltens Einzelner zu begegnen. Konzeptionell und methodisch ist der Begriff, zumal wenn er als unspezifisches Schlagwort und nicht als analytisches Konzept verwendet wird, eher Ausdruck einer wenig zutreffenden Dichotomie zwischen Individuum und Struktur. Denn Strukturen werden durch Praktiken von Menschen geschaffen, vollziehen sich nicht ohne deren Zutun und sind wiederum mit den Praktiken Anderer verflochten. Hier werden auch die konzeptionellen Grenzen bisheriger Studien zur Polizei sichtbar. Eine vorrangige Aufgabe einer unabhängigen, geschichtswissenschaftlich fundierten kooperativ-reflexiven interdisziplinären Polizeiforschung besteht darin, die scheinbare Dichotomie von Einzelfall und Struktur kritisch zu hinterfragen.[25] Wie die englische Polizei der 1990er Jahre gezeigt hat, können nur wissenschaftliche Untersuchungen Impulse liefern, um sowohl die öffentlichen Debatten über polizeiliche Praktiken zu versachlichen als auch Reformen in der Polizei anzustoßen. England zeigt aber auch die Beharrungskraft der Organisationskultur der Polizei. Soll diese verändert werden, sind nachhaltiges und nachdrückliches staatlich-politisches und zivilgesellschaftliches Engagement erforderlich.