Es ist zu befürchten, dass der deutsche Europa-Kurs – und damit Angela Merkel – nicht deshalb so gute Umfragewerte erzielt, weil er verstanden, sondern weil er gerade nicht verstanden wird. Andere Zahlen zeigen die Skepsis, die unter der Oberfläche der Zustimmung liegt: 51% sind der Meinung, wir hätten die DM behalten sollen (Emnid)[1], ebenso viele sind gegenüber dem ESM skeptisch, zwei Drittel sind gegen eine weitere wirtschaftliche Integration (Allensbach). Worüber würden die Europäer eigentlich abstimmen, käme es zu einem Referendum. Würde heute europaweit über die EU abgestimmt, dann käme es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Ablehnung. Nach dem gefühlten zwanzigsten Gipfel ist Europa, zumindest psychologisch, von einer Einigung weiter entfernt als je zuvor[2].
Die allgemeine Ratlosigkeit – bei der in allen EU-Ländern chauvinistische und andere irrationale Töne zunehmen, die dem europäischen Projekt damit mehr Schaden zufügen, als finanziell gerettet werden kann – provoziert auch die Frage nach der Rolle der Medien. Erklären sie uns die Krise besser als die Politiker? Die Frage lässt sich am Beispiel der „politischen Talkshows“ untersuchen[3]. Sind sie nach wie vor bloße „Simulation von Politik“ oder sind sie mittlerweile zum Ort politischer „Aufklärung“ geworden? Hannelore Kraft jedenfalls hat dies bei Günther Jauch behauptet.
Ich möchte zunächst noch einige Stimmen aus der Politik zitieren. Angesichts des wachsenden Erklärungsdefizits wurde es vielen Politikern mittlerweile mulmig: Sie fordern mehr „Erklärungen“. Zu vernehmen ist, dass die Euro-Krise nicht nur eine „Vertrauenskrise“ (Merkel, Schäuble), sondern auch eine „Erklärungskrise“ sei. „Wer sich nicht erklärt, der wird auch nicht verstanden“ (Steinmeier). Es sei „die vorrangigste Aufgabe der Staatenführer, ihren Landsleuten die wirkliche Lage Europas zu erklären und nicht alten Vorurteilen nachzugeben“ erklärt Italiens Premier Monti (Der Spiegel Nr.32/2012). Während Mario Monti noch diplomatisch zurückhaltend ist, wird Jean-Claude Juncker in puncto Vorurteile deutlicher: „Warum behandelt Deutschland die Euro-Zone wie eine Filiale“? (Juncker, sz 30.7.2012). Aktuell klagt Belgien vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Deutschland wegen „Lohndumping“ und Luxemburg reagiert empört auf Vorwürfe, mit Zypern in einen Topf geworfen zu werden. Es bedarf offenbar keiner radikalen politischen Gruppierungen wie in Griechenland oder Italien, um zu erkennen, dass Europa nicht nur in einer finanziellen, sondern in einer politischen Krise steckt.
Die Kanzlerin indessen zeigt beredtes Schweigen, und wenn sie spricht (etwa in ihrer Regierungserklärung vom 18.10. 2012), bleiben die entscheidenden Fragen offen. Wie wird – nach jahrelangem Griechenland-Bashing – die erneute Wende begründet, Griechenland nun doch um jeden Preis zu retten, wer kommt für die Kosten auf, wie lassen sich fiskalische „Durchgriffsrechte“, ein „Währungskommissar“ politisch installieren? Steinbrück hat Merkel in fast allen Punkten kritisiert, gleichwohl hat seine Partei bisher staatstragend noch jeder Kursänderung zugestimmt. Strategisch hat Merkel sich für den „Königsmechanismus (Norbert Elias) entschieden. Königsmechanismus heißt, dass Freunde und Feinde gegeneinander ausgespielt und so im Gleichgewicht gehalten werden. Dann muss man nicht mehr sprechen (jedenfalls nicht öffentlich), sondern lediglich darauf achten, dass das Gleichgewicht erhalten bleibt. Die Causa Weidmann etwa trägt die Züge des Königsmechanismus: Merkel stärkt Weidmann ebenso wie Draghi „den Rücken“ (Merkel), sie ist also sowohl für wie gegen stärkere fiskalpolitische Rolle der EZB.
Im allgemeinen Erklärungsnotstand kamen in Deutschland – und anderswo – mit immer schrilleren Tönen diejenigen zu Wort, für die Juncker den Ausdruck „Provinzartisten“ (gemeint sind insbesondere deutsche Politiker) geprägt hat. An der Verschärfung der Tonlage sind Junckers und Montis Lageerklärungen allerdings auch nicht ganz unschuldig: „Nur um einen billigen innenpolitischen Diskurs zu unterstützen, sollte man den Austritt [Griechenlands] nicht mal als Hypothese behandeln“. „Alles Geschwätz“ von „Provinzartisten“ sei das. Aber wie man in den Wald hineinruft: „An Unverfrorenheit nicht mehr zu überbieten“ (Söder), „grenzwertig“ (Seehofer). Zu Griechenland hat Söder ohnehin eine besonders originelle Meinung; „Irgendwann muss jeder bei Mama ausziehen, und die Griechen sind jetzt soweit“. Man müsse an Griechenland „ein Exempel statuieren“. Auch Draghi als „Falschmünzer Europas“ (Dobrindt) zu bezeichnen, würde Juncker wohl eher zu den missglückten Vorstellungen eines Provinzartisten zählen. Man hat, um in die Gegenwart zu schauen, kein Exempel an Griechenland statuiert, „there will be no Staatsbankrott“ (Schäuble), wohl aber an Zypern, vermutlich weil das angeblich „systemische“ Risiko hier geringer ist. Ob das zypriotische „Geschäftsmodell“ anrüchiger ist als das der Deutschen Bank oder Luxemburgs steht freilich auf einem anderen Blatt.