Der Ausdruck „magischer Realismus“ stammt von Ivan Krastev. Er beschreibt das Problem, dass durch „magische“, vorgeblich realistische, in Wirklichkeit aber immer höher geschraubte militärische und politische Ziele die Chancen auf Waffenstillstand und Friedensschluss verringert, gegebenfalls ausgeschlossen werden[1]. Damit steigt das Risiko von Eskalation und Gegeneskalation des Krieges. Die bekannten Kriegsziele des Westens reichen von einem realistischen „die Ukraine darf nicht verlieren“ (so der deutsche Bundeskanzler) bis zum Siegesrausch eines „totalen Siegs“ der Ukraine, zwangsläufig jeweils verbunden mit unterschiedlichen Vorstellungen unseres zukünftigen Verhältnisses zu Russland. Es ist deshalb geboten, die Kriegszieldebatte einmal im Hinblick auf ihre Prämissen und ihre Rationalität zu hinterfragen.
Da alle diplomatischen Bemühungen um Waffenstillstand und Friedensschluss zumindest perspektivisch Klarheit über die Kriegsziele voraussetzen, soll zur Veranschaulichung dieser These zunächst ein Zitat der deutschen Außenministerin, die Problematik betrachtet werden: „Wir führen Krieg gegen Russland.“ (gesperrt d.Verfasser). Auch wenn Baerbock mit „wir“ nicht exklusiv Deutschland meinte, sondern die NATO, die EU, die USA und eine Reihe anderer Staaten, wäre der Satz unklug und gefährlich: „wir“ wären damit in einen unerklärten Krieg gegen Russland verstrickt. Was wären in diesem Fall dann unsere Kriegsziele?
Aus demselben Grund sind Subjekt, Prädikat und Objekt des Satzes „Wir führen Krieg gegen Russland“ fragwürdig. Ob wir gegen Putin und seine verbrecherische Clique, gegen Russland oder gar gegen das russische Volk kämpfen, ist ein Unterschied ums Ganze. Im ersten Falle wäre das mögliche Ziel des Krieges ein Austausch des Moskauer Führungspersonals, im zweiten ein regime change, einschließlich möglicherweise einer Auflösung der Russischen Föderation als eines failed state. Vielleicht hat Baerbock die Implikationen dieses Satzes nicht überblickt, vielleicht hat sie ihn auch anders gemeint (sie musste „zurückrudern“, wie der SPIEGEL bemerkt). Er wurde gesagt, und so wie er gesagt wurde, war er unklug.
Damit wären wir bei den Kriegszielen. Was heißt es beispielsweise, dass die Ukraine gegen Russland „gewinnen“ müsse: gegen eine Kremlclique, einen failed state oder gegen das russische Volk? Der Außenpolitiker und Völkerpädagoge Kiesewetter (CDU) hat dem eine bemerkenswerte Variante hinzugefügt: Russland müsse „verlieren lernen“. Die Geschichte hat gezeigt, dass der Lerneffekt verlorener Kriege sich in Grenzen hält. Die USA (Vietnam) und Russland (Afghanistan) hat es nicht davon abgehalten, neue Kriege anzuzetteln. Es ist richtig, dass auch Atommächte Kriege verlieren können (im Falle der USA in Vietnam war es allerdings so, dass sie keine Atomwaffe einsetzen musste: Napalm und Agent Orange hatten vergleichbar desaströse Wirkungen). Wenn sich allerdings zwei Atommächte gegenüberstehen, liegt der Fall anders: die Risiken beim Versuch, eine Atommacht besiegen zu wollen, sind extrem hoch, sofern sie nicht geradewegs in die atomare Katastrophe führen.
Auch Habermas hat sich in seinem aktuellen „Plädoyer für Verhandlungen“ mit den Fragen der Kriegsziele auseinandergesetzt. Die Gefahr der Variante „Sieg der Ukraine“ sieht er in ihrer Unbestimmtheit, so dass es aus diesem Grund auch keine „roten Linien“ gäbe und sich weitere „Diskussionen über das Ziel unseres militärischen Beistandes … erübrigen.“ Leider versäumt Habermas anzugeben, welche Kriegs- und Friedensziele die Variante „die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren“ für ihn impliziert. Sie seien dennoch klarer zu bestimmen als die Variante „Sieg“, etwa als Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022. Habermas scheint für diese Lösung zu votieren: „die Wiederherstellung des status quo ante vor dem 23.Februar [hätte] den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert“, was die Preisgabe der Krim impliziert. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Ähnlich wie der Historiker Schlögel den deutschen Intellektuellen pauschal „Verrat“ vorwirft, stellt auch Peter Neumann in Frage, ob der „Friedensphilosoph“ Habermas bereit ist, die „Freiheit“ auch gegen den „äußeren Feind“ zu schützen (Die Zeit, 9/2023).
Mein eigener Vorschlag geht von dem Charakter des Ukrainekrieges als einem Abnutzungskrieg aus, der die Verluste an Menschen und Material immer höher treibt, ohne erkennbare Aussicht auf Gewinn. Unmittelbares Kriegsziel und Ausgangspunkt für weitere Schritte wäre damit ein Waffenstillstand, der logischerweise noch kein Frieden ist. An diesem Punkt war man schon einmal - in Istambul: Es wurde über eine neutrale Ukraine und entsprechende Sicherheitsgarantien verhandelt. Nach Butscha wurde dieser Prozess gestoppt[2].
Mir erschiene heute, nachdem die Lage verfahrener ist als je zuvor, ein Rückgriff auf ein vernünftiger konzipiertes und vor allem implementiertes „Minsk“ sinnvoll, auch wenn dieses Abkommen keinen guten Ruf hat. Statt dass, wie zuvor bei Minsk II, beide Seiten ihre militärischen Auseinandersetzungen fortsetzen und der Westen nicht sonderlich an der energischen Umsetzung engagiert war, müssten beide Seiten zunächst vom Vorteil einer Einstellung der Kriegshandlungen überzeugt werden. Hier läge die Aufgabe der Diplomatie. Dem korrespondiert der Vorschlag des US-Generalstabschefs Milley, der eine wesentliche Verschiebung der Fronten nicht wahrscheinlich hält[3]. Milleys Einschätzung hat sich bewahrheitet: seit Monaten gibt es keine nennenswerte Veränderungen des Frontverlaufs.
Da beide Seiten sich in einem „Abnutzungskrieg“ befinden, aber weiterhin im Glauben sind, einen „Niederwerfungskrieg“ führen zu können (so die zutreffenden Termini von Münkler)[4], hätte ein Waffenstillstand zunächst zwei Voraussetzungen. Beide Parteien müssten erkennen, dass in einem sich hinziehenden Abnutzungskrieg weitere Gewinne nicht mehr oder nur zu einem sehr hohen Preis möglich sind. Dazu müssten die Partner sowohl der Ukraine als auch Russlands diese davon überzeugen, dass die menschlichen und finanziellen Kosten eines weiteren Krieges zu hoch sind, ein Waffenstillstand für beide Seiten vorteilhafter wäre. Vor dem Hintergrund eines erfolglosen Abnutzungskrieges könnte derartige Überzeugungsarbeit – etwa seitens der USA, der UNO und Chinas - erfolgreich sein. Hier wäre politisches und psychologisches Geschick erforderlich: beide Seiten müssen ihr Gesicht wahren können. Die Fehler des Versailler „Friedens“ von 1918, der von den Nationalsozialisten erfolgreich funktionalisiert werden konnte, dürften nicht wiederholt werden. Für den Verlust der Krim muss es für die Ukraine Kompensationen geben: Sicherheitsgarantien und Wiederaufbauhilfe.
Es mag zynisch klingen: ein derartiger Abnutzungskrieg scheint eine Voraussetzung für einen Waffenstillstand zu sein. Bis dahin wird es vermutlich noch weitere „Bachmuts“ geben, weshalb zunächst auch weitere Waffenlieferungen an die Ukraine vorübergehend notwendig sein werden. Dies mag aus pazifistischer Gesinnungsethik verwerflich sein; würde der Westen anders handeln, käme es tatsächlich einer Kapitulation der Ukraine gleich.
Ausgangspunkt für einen Waffenstillstand sollte die Perspektive des status quo ante sein, so dass der Aggressor nicht durch neue Geländegewinne belohnt wird. Beide Seiten müssten dann bei Verhandlungen – etwa unter OSZE oder UN-Mandat – zunächst einige Kröten schlucken. Dafür müsste man der Ukraine eine Sicherheitsgarantie durch ein breites Staatenbündnis einschließlich der UNO mit klar definiertem Mandat in Aussicht stellen, Russland die Anerkennung der Krim-Annexion (ohne dieses Zugeständnis würde es vermutlich nicht funktionieren). Die Sicherheitsgarantie würde im Übrigen symmetrisch funktionieren: beide Seiten müssten bei einem Verstoß mit Sanktionen rechnen. Dass dies andererseits mit einem massiven Risiko für den Westen verbunden wäre, ist evident (Habermas hat nachdrücklich darauf hingewiesen): bei Verstößen wäre der „Westen“ in der Pflicht.
Die wären, wie gesagt, noch keine Friedensverhandlungen, aber ein Schritt, die Waffen schweigen zu lassen. Mit vielen Fragezeichen versehen: am Ende dieses Prozesses könnte ein Sonderstatus für den Dombass stehen. Dieser würde, nach weitgehendem Abzug der Truppen beider Seiten, ermöglichen, dass ein Referendum abgehalten würde, bei denen die Bevölkerung entscheidet, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören will oder neutral mit eigenem staatlichem Status bleiben möchte. Eine Utopie? Vielleicht, aber nicht unmöglich[5]. Dieser Verhandlungsprozess würde sich vermutlich über lange Zeit hinziehen, aber zumindest würde in dieser Zeit nicht geschossen werden. Ein derartiger Vorschlag wäre auch kein Verhandeln „über die Köpfe der Ukraine hinweg“, sondern ein Weg für die Implementierung eines Friedensschlusses unter Beteiligung aller Parteien.
Hierzu noch ein Wort zur Rolle Chinas. Ein derartiges Sicherheitsabkommen hätte natürlich besonderes Gewicht, wenn China sich daran beteiligen würde. Dazu müsste es Russland nicht in den Rücken fallen. Es würde genügen, dass China seine beanspruchte Vermittlerrolle wahrnehmen, zugleich müsste es in der Frage der „territorialen Integrität“ Farbe bekennen, was bisher noch aussteht. China würde davon profitieren: es würde sein internationales Ansehen erhöhen.
Es gibt bei diesen Überlegungen natürlich schwer einzuschätzende Unsicherheitsfaktoren (einen hatte ich bereits erwähnt). Mit Münkler bin ich der Ansicht, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen Abnutzungskrieg handelt, der in mancher Hinsicht vergleichbar dem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland 1914-1918 ist. Münkler verweist allerdings in einem früheren Artikel auch darauf, dass die USA selbst die Strategie eines langanhaltenden Abnutzungskrieges verfolgen, „nämlich die eines lange zu führenden Krieges gegen Russland, mit dem Ziel, die Tiefe der russischen Logistik und vor allem die Breite ihres Offizierskorps aufzuzehren und auf diese Weise sicherzustellen, dass die Russen in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht mehr in der Lage sind, einen Krieg dieses Ausmasses zu führen“[6]. Dass dies nicht nur eine zugespitzte These ist, zeigen die gut dokumentierten Aussagen des US-amerikanischen Außenministers Lloyd Austin, dass Russland so geschwächt werden müsse, dass es seine Einsatzfähigkeiten „nicht schnell wieder aufbauen“ könne. Umgekehrt hat sich die Ukraine in die Vorstellung einer Rückeroberung der gesamten Ukraine geradezu verbissen. Die Krim, so jedenfalls sieht es Russland, ist „russisches Staatsgebiet.“
Gegenläufig dazu analysiert Ivan Krastev die Implikationen eines vollständigen ukrainischen Sieges, der nach Selenskys Vorstellungen „alternativlos“ ist: In der Vorstellung der Ukrainer und vieler Osteuropäer sei der gegenwärtige Krieg Russlands Krieg, weshalb auch Russland, nicht nur Putin besiegt werden müsse: „Deshalb soll ein Sieg Kiews wie eine Wiederkehr von 1945 und 1991 aussehen. Der Krieg soll mit Kriegsverbrechertribunalen enden, die den menschenfeindlichen Charakter des russischen Imperialismus aufdecken, und die Russische Föderation soll sich auf ähnliche Weise auflösen, wie die Sowjetunion nach dem Ende des Kommunismus zerfiel.“
Krastev nennt dies „magischen Realismus“ und fährt fort: „Wie realistisch aber ist die Erwartung, dass ein mögliches Ende des Krieges dem von 1945 gleichen wird, wenn wir bedenken, dass Putins Russland im Unterschied zu Nazi-Deutschland eine Großmacht ist, die mit Atomwaffen droht?“ Die Vorstellung einer „Siegesparade ausländischer Truppen in Moskau“, nehme sich wie eine Science-Fiktion-Fantasie aus.
Klingt übertrieben? Allerdings hat gerade, im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz, der ukrainische Außenminister ähnliche Ziele verkündet, neben der Forderung nach Kampfflugzeugen neuesten Typs, Unterseebooten und Splitter- und Phosphorbomben (letztere international geächtet): Wiederherstellung der vollständigen territorialen Integrität, Reparationen und - in diplomatischer Vagheit - „Russland muss sich ändern“. Kriegsverbrechertribunale fordert Selensky darüber hinaus schon seit langem, auch unsere Außenministerin. Auch zahlreiche deutsche und ausländische Intellektuelle schließen sich ähnlichen Maximalzielen an, so etwa die Israelin Illouz mit der Forderung nach einem „totalen Sieg“ der Ukraine, was makabre Assoziationen an den „totalen Krieg“ weckt, oder der Forderung, die Ukraine müsse umgehend in die NATO aufgenommen werden. Noch bombastischer ist die Forderung des Yale-Professors Snyder, dass Deutschland im Kampf gegen Russland sozusagen nachholend den Faschismus bekämpfen solle, „dann haben sie eine zweite Chance, auf den Faschismus zu reagieren“. Die Angst vor einem atomaren Krieg findet Snyder „erbärmlich“.
Welche Blüten ein immer selbstverständlicher werdender Bellizismus in der deutschen Diskussion treibt, soll an zwei weiteren Beispielen gezeigt werden. Der Militärexperte Carlo Masala, beliebter Talkshow-Gast, entwickelt den „gewaltigen Unterschied“ vom „Einsatz militärischer Macht“ als „letztem“ beziehungsweise als „extremem“ Mittel der Politik. Sieht man den militärischen Einsatz als „letztes“ (nur im äußersten Fall anzuwendendes) Mittel, „beraubt man die Diplomatie eines ihrer wichtigsten und wirksamsten Instrumente: nämlich mit diesem Einsatz zu drohen, um diplomatischen Lösungen den Weg zu bahnen“. Umgekehrt gilt, wenn der militärische Einsatz nicht als letztes, sondern nur als „extremes“ Mittel der Diplomatie angedroht wird: „Diese Drohung mit dem extremsten Mittel ermöglicht oft überhaupt erst eine diplomatische Lösung. Ein deutscher Außenminister würde einen solchen Satz nie äußern. Er oder sie würde sagen: es ist noch viel zu früh, um über militärische Optionen zu reden“.[7] Was diese etwas geschraubten Formulierungen kaum mehr verbirgt, ist die Drohung mit einem Angriffs- oder Präventivkrieg als Mittel der Politik. Dass dies völkerrechtlich geächtet ist, scheint dem Militärfachman zu entgehen.
Ein weiteres Beispiel, eine skurrile Fußnote zum aufgeheizten Diskursklima, findet sich im SPIEGEL (Nr.8. 18.2.2023). Es handelt sich um einen Kommentar zu dem Aufruf von Schwarzer/Wagenknecht „Manifest für den Frieden“, in dem den Autorinnen unterstellt wird, sie würden „weiße Kapitulationsfähnchen“ schwenken. Da die Autorinnen dies kategorisch verneinen: „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“, muss der Autor dies nolens volens selbst einräumen, was ihn freilich nicht daran hindert, weiterhin seinen Kapitulationsvorwurf zu wiederholen: „Aber was heißt es dann? Welche Kompromisse wollen die Autorinnen der Ukraine abnötigen, welche Opfer? Das sollten sie offen aussprechen, bevor sie ihre weißen Fahnen schwenken“. Dies ist Desinformation, nahe an fake news.
Ich selbst hätte einige Einwände gegen die Resolution. Was genau heißt: „die Eskalation der Waffenlieferungen“ stoppen. Heißt dies wirklich nur „Eskalation“ oder doch vollständiger Stopp der Waffenlieferungen, was unverantwortlich wäre. Allerdings: vor dem Hintergrund wachsenden Bellizismus’ in den Medien repräsentiert für mich die Einsicht, dass jede weitere militärische Eskalation zwangsläufig die Gegen-Eskalation der anderen Seite provoziert, einen schlichten Appell an die Vernunft[8]. Darauf zu hoffen, dass Russland in Kürze die Soldaten, die Panzer und die Raketen ausgehen, ist illusorisch. Der Forderung nach Frieden wird häufig entgegengehalten, dies sei naiv oder „unterkomplex“. Prüft man allerdings die Gegenargumente, so stößt man zumeist lediglich darauf, es gehe in der Ukraine schließlich um die „Freiheit“ oder um die „Menschenwürde“. Punkt.
Angesichts der fatalen Verquickung (partei-)politischer Interessen auf nationaler und internationaler Bühne mit inhaltlichen Fragen der Kriegslieferungen (vgl. etwa die teilweise abstruse Polemik gegen Scholz bei Lanz, Illner, Will & Co.), mit denen aus sicherer Entfernung die verbale Eskalationsschraube immer weiter gedreht wurde und mit Außenpolitik Innenpolitik betrieben wird, möchte man an Kant und sein Verständnis von Aufklärung erinnern: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit“. Eine wirklich realistische Diskussion der Kriegsziele wäre Aufklärung in besten Sinne Kants.