L.I.S.A.: Sie unterscheiden in Ihrer Studie mit Blick auf den leitenden Begriff der "Ökonomisierung des salutogenetischen Bereichs" zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert – eine Unterscheidung beziehungsweise ein Widerspruchsverhältnis, das auf Karl Marx zurückgeht. Sie zeigen, dass sich in der Geschichte des Gesundheits- und Krankenhauswesens eine Verschiebung von gebrauchswertgeleiteten Motiven hin zu einer Tauschwertorientierung vollzogen hat. Könnten Sie das bitte kurz erklären? Und warum ist es dabei nur mit Blick auf die Verselbständigung des Tauschwerts zulässig, von einer Ökonomisierung zu sprechen?
Dr. Mohan: Der Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert ist eine zentrale Denkfigur, die die gesamte Marxsche Kritik der politischen Ökonomie durchzieht. Mit Gebrauchswert und Tauschwert sind zwei verschiedene Dimensionen oder Seiten des gesellschaftlichen Reichtums angesprochen, wie er in Gesellschaften in Erscheinung tritt, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt, Tauschwerte die kapitalismusspezifische, gesellschaftliche Form des Reichtums. Marx entwickelt diesen Widerspruch zunächst anhand der Warenform. Heute würde man schlicht sagen, die Ware hat einen Nutzen (Inhalt) und einen Preis (Form), was trivial klingt. Marx hat jedoch gezeigt, dass in dieser vermeintlichen Trivialität ein komplexes Universum historisch spezifischer sozialer Beziehungen zum Ausdruck kommt, die keineswegs unmittelbar sichtbar, dafür aber um so wirksamer sind. Eben das, dieses radikale – also an die Wurzel gehende – Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten, macht seine Kritik der politischen Ökonomie meines Erachtens soziologisch und gesellschaftstheoretisch so spannend und aktuell.
Zwischen diesen Dimensionen besteht nun insofern ein Widerspruch, als Tauschwerte notwendig von allen konkreten, qualitativen Eigenschaften des Reichtums abstrahieren, denn die Tauschwerte basieren auf der wertförmigen Gleichheit all der verschiedenen Waren, die die kapitalistische Welt so zu bieten hat. Die Waren enthalten als Tauschwerte „kein Atom Gebrauchswert“, wie Marx schreibt, denn als Gebrauchswerte unterscheiden sie sich gerade qualitativ voneinander, als Tauschwerte sind sie jedoch in einem bestimmten quantitativen Verhältnis gleich. Gebrauchswert und Tauschwert sind aufgrund des Abstraktionsverhältnisses einander entgegengesetzt, letzterer verhält sich gegenüber ersterem gleichgültig und verselbständigt sich. Aber: Kein Tauschwert kann ohne Bezug zu irgendeinem Gebrauchswert existieren und (fast) jeder Gebrauchswert, der heutzutage produziert wird, wurde als Tauschwert, das heißt als Ware, oder mit Hilfe von anderen Waren – und sei es nur der Ware Arbeitskraft – produziert. Zwischen beiden besteht also auch ein notwendiger Zusammenhang (wobei unter Notwendigkeit hier keine überhistorisch allgemeine, sondern eine historisch spezifische Notwendigkeit zu verstehen ist, die sich aus gesellschaftlichen Strukturvorgaben ergibt und die entsprechend auch praktisch veränderbar ist – kurz: In einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise müssen Gebrauchswerte keineswegs die Form von Waren, also Tauschwerten, annehmen). Und eben diese Gleichzeitigkeit von Verselbständigung der beiden Seiten gegeneinander und die Notwendigkeit ihres Zusammenhangs versteht Marx als Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert.
Marx hat diesen Widerspruch für Produktionsprozesse untersucht, in denen es um kapitalistische Waren- und damit Mehrwertproduktion geht, in denen Gebrauchswerte lediglich Mittel zum Zweck der Profiterwirtschaftung sind. Meine Grundannahme besteht darin, dass der Widerspruch sich aber ebenfalls – wenn auch in anderer Weise – in Produktionsprozessen geltend macht, in denen es, wie im Gesundheitswesen, nicht um Mehrwert, sondern um die wohlfahrtsstaatliche Bereitstellung bestimmter Gebrauchswerte geht – im vorliegenden Fall: um eine dem Ideal nach bedarfsgerechte Krankenbehandlung. Hier werden zwar keine Waren im kapitalistischen Sinne produziert (auch wenn jeder einzelnen Fallbehandlung mittlerweile administrativ ein Preis in Gestalt einer Fallpauschale angeheftet wurde), aber die Krankenbehandlung muss dennoch in irgendeiner Weise (re)finanziert werden. Insofern hat und hatte die Krankenbehandlung (Gebrauchswertorientierung) immer auch einen Tauschwertbezug. Auch hier geht es zunächst um die trivial scheinende Selbstverständlichkeit, dass die gebrauchswertorientierte, sozialstaatliche Produktion von Gütern und Dienstleistungen stets unter Finanzierungsvorbehalt steht. Zieht man jedoch die Marxsche Denkfigur zu Rate, lassen sich institutionelle Arrangements wie die Krankenversicherung als Bearbeitungs- und Bewegungsformen des Widerspruchs von Gebrauchswert und Tauschwert interpretieren. Die auf dem Sachleistungs- und Solidarprinzip basierende Krankenversicherung stellt ein institutionelles Arrangement dar, in dem der Widerspruch zugunsten der Gebrauchswertorientierung bearbeitet wird – man bekommt, der Idee nach, die medizinische Versorgung, die man braucht, nicht die, die man sich leisten kann. Aber: das ist keineswegs in Stein gemeißelt. Wie der Widerspruch bearbeitet wird, unterliegt historischen Wandlungsprozessen und praktischen Umsetzungsbedingungen – potenziell können Tauschwertorientierungen gegenüber den Gebrauchswertorientierungen an Bedeutung gewinnen und diese vielleicht sogar übertrumpfen. Und genau das passiert in Ökonomisierungsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen und bei unterschiedlichen Akteuren.
Um ein häufiges Missverständnis zu vermeiden: Dass Tauschwertorientierungen sich verselbständigen, bedeutet nicht notwendig, dass es um Profite geht – es geht um jegliche Orientierung an Geldgrößen. In Bezug auf die Gesundheits- und Krankenhauspolitik meine ich damit beispielsweise – um es konkreter zu machen -, dass es seit Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik einen politischen Umschwung von einer ausbauenden Sozialpolitik zu einer Kostendämpfungspolitik gab. Im Zuge dessen rückte das politisch gesetzte Ziel in den Vordergrund, die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung – also eine Geldgröße, die nicht die Form von Profiten hat – möglichst stabil zu halten und eine damals prophezeite ‚Kostenexplosion‘ zu vermeiden. Diese Kostendämpfungspolitik führte zunächst zu einer Budgetierung in der Krankenhausfinanzierung, die wiederum einige Zeit später – ab Mitte der 1990er Jahre – durch ein partielles Fallpauschalensystem ergänzt wurde, das ab 2003 zur zentralen Refinanzierungssäule der Betriebskosten der Krankenhäuser wurde. Dabei handelt es sich – wie aktuell in der Corona-Krise offen zu Tage tritt – um ein höchst problematisches System, mit dem das sogenannte Selbstkostendeckungsprinzip endgültig abgeschafft und die Krankenhäuser gezielt unter ökonomischen Druck gesetzt werden sollten. Wie stark der ökonomische Druck ist, der so erzeugt wurde, lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass nach den Daten des Krankenhaus Rating Report 2019 im Jahr 2017 12% der Krankenhäuser unter erhöhter Insolvenzgefahr standen. Der ökonomische Druck wird allerdings zusätzlich dadurch erhöht, dass die Krankenhäuser auch ihre Investitionskosten über die Fallpauschalen decken müssen, obwohl hierzu eigentlich Bund und Länder verpflichtet sind. Das Fallpauschalensystem besteht im Kern darin, dass einzelne Behandlungsfälle einer Fallgruppe zugeordnet werden, die mit einem Preis versehen ist, der statistisch ermittelte Durchschnittskosten abdecken soll, nicht mehr die Kosten, die real angefallen sind. Der dahinterstehende Regulierungsgedanke war, dass auf diese Weise ‚unwirtschaftlich‘ arbeitende Krankenhäuser ‚vom Markt gedrängt‘ werden – unabhängig von der Frage, ob sie für die regionale Versorgung gebraucht werden oder nicht. Das Fallpauschalensystem folgt damit explizit der Idee einer Steuerung durch Preise, also Tauschwertgrößen. Legt man Marx‘ Begriffsbestimmung zugrunde, ist bereits an dieser Stelle klar, dass ein solches System systematisch an den Versorgungsbedarfen vorbei steuert, denn in die Tauschwertbestimmung geht kein Atom Gebrauchswert ein. Anders formuliert: In betriebswirtschaftlichen Tauschwertgrößen lässt sich strukturell nicht abbilden, ob die Behandlungen, die ihnen zugrunde liegen, medizinisch sinnvoll waren oder nicht. Beansprucht wurde, dass das Geld der Leistung folgen sollte, was unter den Bedingungen ökonomischen Drucks auf Häuser und Abteilungen passiert, ist tendenziell jedoch genau umgekehrt, dass die Leistung dem Geld folgt. Zumindest erzeugt dieses System ‚ökonomische Anreize‘, die Kosten pro Fall möglichst gering zu halten, vor allem solche Fälle zu behandeln und solche Prozeduren durchzuführen, die versprechen, Gewinne abzuwerfen, und solche Fälle zu vermeiden, die Verluste produzieren. So rückte durch das Fallpauschalensystem auf der Ebene des Krankenhausmanagements und vor allem auch auf Ebene der ärztlichen Behandlung eine Tauchwertorientierung in den Vordergrund, da nun jeder einzelne Fall unter der Frage verhandelt werden kann, ob er Gewinne oder Verluste generiert, so dass es regelmäßig zu Konflikten zwischen medizinischen und ökonomischen Entscheidungskriterien kommt. Wie belastend dieser Konflikt ist, davon zeugt – neben diversen Studien, die inzwischen vorliegen – etwa der letzten Herbst im Stern veröffentlichte und mittlerweile von knapp 3.000 Ärzt*innen unterzeichnete Appell „Rettet die Medizin“.
Zugleich sorgte der Kostenwettbewerb dafür, dass die Krankenhäuser an nicht-ärztlichem Personal, also vor allem auch beim Pflegepersonal gespart haben. Gerade der Pflegedienst wurde durch diese Politik zwischen Personalmangel und Arbeitsverdichtung systematisch zerrieben – daher der aktuelle ‚Pflegenotstand‘ im Krankenhaus. Auch er ist Ausdruck davon, dass die Politik die Krankenhäuser und ihr Personal in den letzten Dekaden systematisch dazu genötigt hat, Tauschwertorientierungen Tribut zu zollen. Mittlerweile hat man – nachdem die Beschäftigten insbesondere in der Pflege jahrelang durch Streik-Aktivitäten auf sich und ihre Lage aufmerksam gemacht haben – auch auf bundespolitischer Ebene zumindest implizit eingestanden, dass das Fallpauschalensystem systematisch zu Lasten der Pflege ging und eine bedarfsgerechte Versorgung unterminiert, da nun geplant ist, die Finanzierung des Pflegepersonals auf bettenführenden Stationen aus dem Fallpauschalensystem auszugliedern und wieder über das Selbstkostendeckungsprinzip abzuwickeln. An dieser Dynamik lässt sich meines Erachtens ablesen, dass der Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert weiterhin höchst wirksam ist und die politisch forcierte Verselbständigung von Tauschwertorientierungen stets neue Konflikte und Kämpfe provoziert.
Soweit zur historischen Verdeutlichung. Begriffssystematisch bzw. -strategisch scheint es mir deshalb wichtig, nur dann von Ökonomisierung zu sprechen, wenn es zur Verselbständigung von Tauschwertgrößen und -orientierungen kommt, weil der Begriff sich so in kritischer Absicht vom Begriff der Wirtschaftlichkeit unterscheiden lässt. Das typische Legitimationsmuster, um die kursorisch umrissene Ökonomisierungspolitik zu rechtfertigen, besteht ja darin, dass gesagt wird: Wir wollen nur, dass die Krankenhäuser wirtschaftlich und nicht verschwenderisch arbeiten. Das heißt, das Ziel der medizinisch adäquaten Krankenbehandlung soll mit einem möglichst sparsamen Mitteleinsatz erreicht werden. Hier wird also völlig an der Realität vorbei behauptet, die Ökonomisierungspolitik würde weiterhin im Sinne einer bedarfswirtschaflichen Rationalität gebrauchswertförmige Ziele fokussieren. Und eben das ist nicht der Fall. Mit dem Begriff von Ökonomisierung als Verselbständigung von Tauschwertorientierungen wird entgegen diesem Rechtfertigungsmuster darauf hingewiesen, dass ganz andere Ziele relevant werden als die Krankenbehandlung, Ziele, die als Tauschwertorientierungen notwendig von der Gebrauchswertdimension abstrahieren, so dass das gegenwärtige Finanzierungsregime systematisch Zielkonflikte produziert und damit eigentlich das Gegenteil von Rationalisierung bedeutet, die immer eine klare Zieldefinition voraussetzt.