In Zentrum dieser Reflexion standen insbesondere die Ereignisse der Silvesternacht in Köln, die einer differenzierten und aufschlussreichen Analyse unterzogen wurden:
„Wie können wir über die Geschehnisse sprechen, ohne in die Falle einer letztlich rassistischen Kulturalisierung der Ereignisse zu tappen oder sie auf eine mehr oder weniger alltägliche Form des Sexismus zu reduzieren? Bis heute finden wir nur wenige Stimmen, die das Geschehen als Teil der Transformationsprozesse begreifen, die wir zurzeit in Deutschland und im euro-mediterranen Raum erleben. Die Gesellschaften in Europa schaffen durch die hohen Hürden zu Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis keine großen Anreize, sich zu integrieren, für diese vielen jungen Männer, die klandestin in Europa unterwegs sind. Die Menschen merken schnell, dass sie sich in erster Linie auf die eigenen Kontakte verlassen müssen.
Die vielen Neuankömmlinge, die jetzt im Zuge der Grenzöffnung – aber auch schon vorher – nach Mittel- und Nordeuropa gekommen sind, verursachen also in vielerlei Richtungen Probleme: für die Gesellschaften, durch die sie sich bewegen und die verzweifelt an ihrer eigenen Kategorisierung festhalten wollen, aber auch für die gewachsenen und gut integrierten marokkanischen und marokkanisch-stämmigen Gemeinschaften in Deutschland, die auch nicht unbedingt immer wissen, was sie mit diesen jungen Männern tun sollen, die nur relativ kurzfristig hier sind.
Aus dieser explosiven Gemengelage scheint auch die Silvesternacht auf der Domplatte entstanden zu sein, wo illegale Flüchtlinge oder ansässige Migranten aus dem arabischen Raum offensichtlich aufeinander getroffen sind. Ich glaube, man sollte das Problem der Silvesternacht ernst nehmen, aber nicht als Problem einer Kultur, sondern als transkulturelles Problem einer Situation, die wir unterschätzen. Migration verunsichert die Menschen in Bewegung genauso wie die Ansässigen. Die jungen Männer, die an der Silvesternacht am Hauptbahnhof zusammengekommen sind, haben nach häufig traumatischen Erfahrungen einen Ort zum Feiern gesucht und sind – wie tausende Deutsche auch – aus ihrer Umgebung nach Köln gefahren, nachdem sie sich in sozialen Netzwerken verabredet haben. Wir müssen in Rechnung stellen, dass diese jungen Leute nicht unbedingt Erfahrung damit hatten, Silvester in Deutschland zu feiern und sich in der Silvesternacht auch irgendwie als junge Männer zu bewähren versuchten. Junge Männer unter jungen Männern, die sich auf die ganz wenigen Kategorien zurückfallen lassen, die in der Migration konstant gehalten werden können und über die sie sich zusammenfinden: ihr Geschlecht und ihr Alter. Wir unterschätzen die Verunsicherung, die entsteht, wenn sich Menschen in fremden Gesellschaften zurechtfinden müssen und sich die Regeln des Umgangs um ihre eigene Verortung neu erarbeiten müssen. Die erprobten Kategorien geraten in Bewegung, soziale Beziehungen müssen neu organisiert werden.“