Thomas Harlan ist das älteste von fünf Kindern Veit Harlans, der in den späten 30er und dann 40er Jahren der erfolgreichste deutsche Filmregisseur und, wie man heute sagen würde, ein Superstar war. Veit Harlan hatte diese Karriere Joseph Goebbels zu verdanken, der Thomas wiederum ein väterlicher Freund und großes Idol war. Schon allein wegen dieser Verpflichtung konnte Veit Harlan es nicht ablehnen, „Jud Süß“ zu drehen, ein Meisterwerk seiner melodramatischen Filmkunst mit höchst subtiler antisemitischer Wirkung. Mehr als 20 Millionen Zuschauer sahen den Film in Deutschland, und auch im europäischen Ausland lief er mit Erfolg. Die ungeheure Bedeutung dieses Films, der seinen Auftrag, in der Bevölkerung Verständnis für die Vernichtung der Juden zu wecken, weitgehend erfüllte, erklärt den Umstand, daß Veit Harlan als einziger deutscher Künstler nach dem Kriege wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, dann allerdings freigesprochen wurde.
Thomas Harlan war einerseits ein typischer deutscher Junge seiner Zeit, er sammelte Granatsplitter im Grunewald, verehrte Hitler, war Rottenführer in der Marine-HJ und des Endsieges sicher. Andererseits hatte er, im Künstlerhaushalt aufgewachsen, mehr gesehen als die Propaganda: den Widerspruch seiner Mutter Hilde Körber und den Widerstand des pommerschen Landadels, der ihn im Rahmen der Kinderlandverschickung aufgenommen hatte. 1947 ging Thomas zum Philosophie-Studium nach Tübingen und lernte den damals noch unbekannten Michel Tournier kennen. Tournier brachte ihn nach Paris, wo Thomas Harlans Horizont in den dortigen intellektuellen Kreisen eine erhebliche Erweiterung erfuhr. Er begriff das vernichtende Wesen des Nationalsozialismus und wurde Kommunist. 1952 fuhr er mit seinem besten Freund Klaus Kinski für einige Monate nach Israel, mit falschen, nicht-deutschen Pässen, die Nahum Goldmann, Freund seiner Mutter und Präsident des Jüdischen Weltkongresses, den beiden besorgt hatte.
Aus Israel zurück schrieb Harlan ein Theaterstück über den Aufstand im Warschauer Getto, „Ich selbst und kein Engel“, welches er mit dem von ihm gegründeten „Jungen Ensemble“ in der Berliner Kongreßhalle ab 1958 aufführte. Im Januar 1959 kam es dort zum Skandal: Harlan hatte, über den Völkermord und dessen Personal viel mehr wissend als seine deutschen Mitbürger, eine Unterschriftenkampagne gegen Alfred Six und Heinz Jost gestartet, die beide unbehelligt ihre Nachkriegsexistenzen führten und im Falle Six sogar wieder Karriere gemacht hatten. Beide waren im Dritten Reich Amtschef im Reichsicherheitshauptamt gewesen, dem Motor des Völkermords. Six war zudem Führer eines Einsatzkommandos im Bereich der Einsatzgruppe B gewesen, Jost gar der Chef der Einsatzgruppe A, die im Baltikum Juden vernichtete. Six und Jost, zwei höchstrangige Völkermörder, wurden von der deutschen Strafverfolgung in Ruhe gelassen, und genau hier hatte Harlans Kampagne ansetzen wollen.
Die Reaktion kam schnell. Ernst Achenbach, Alfred Six Rechtsanwalt, rückte Harlan auf den Pelz und forderte die Unterlassung solcher Behauptungen. Achenbach selber war im Krieg Leiter der Politischen Abteilung der deutschen Botschaft in Paris und unter anderem mit der Deportation von Juden beschäftigt gewesen. In der Bundesrepublik wurde er zur grauen Eminenz der NRW-FDP und zur Spinne im Netz der alten Kameraden. Er war sieben Jahre Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag, dann 19 Jahre lang Abgeordneter des Deutschen Bundestages und 13 Jahre lang Abgeordneter des Europäischen Parlamentes. Scheel und Brandt versuchten den Chef des rechten Flügels der FDP-Bundestagsfraktion 1969 als EWG-Kommissar nach Brüssel zu befördern, um der ersten sozial-liberalen Koalition den Rücken frei zu halten, was nicht gelang und statt dessen einen europaweiten Skandal auslöste.
1959 ging Thomas Harlan, durch Achenbach und Konsorten bedroht, nach Polen, wo er aufgrund seiner vorzüglichen Verbindungen Zugang zu den Archiven erhielt. Ursprünglich wollte er nur Beweise gegen Six und Jost suchen, um mit seinen Behauptungen juristisch sicherer dazustehen, doch in Polen, dem Land, in welchem die weitaus meisten Verbrechen der Deutschen stattgefunden hatten, fand er viel mehr Unterlagen. In kurzer Zeit organisierte er ein Team und die Finanzierung eines letztlich unveröffentlicht gebliebenen Buchprojektes, welches er „Das Vierte Reich“ nannte: ein Lexikon mit der Beschreibung von rund 17.000 Beteiligten am Völkermord, die Anfang der 60er noch in der Bundesrepublik lebten. Neben der publizistischen Auswertung arbeitete er den bundesdeutschen Strafverfolgern zu. Mittlerweile eng befreundet mit dem hessischen Generalstaatsanwalt und Initiator des Auschwitz-Prozesses Fritz Bauer, schickte er Fotokopien der gefundenen Beweismittel zu Tausenden der Zentralen Stelle in Ludwigsburg und erstattete selbst über 2.000 Strafanzeigen. Harlan ermittelte auf eigene Faust, fand Adressen in Telefonbüchern und über die Schufa, und wußte über die Zusammenhänge des Völkermords damals schon mehr als er verkraften konnte. Als er entdeckte, daß der Leiter der Zentralen Stelle selber nicht unbelastet gewesen war, brach er zusammen und seine Arbeit ab. Er betätigte sich fortan als Weltrevolutionär und Filmemacher, beteiligte sich am internationalen Widerstand gegen Pinochet und produzierte mit dem Film „Torre Bela“ ein einzigartiges Dokument eines revolutionären Prozesses im Rahmen der portugiesischen Nelkenrevolution.
Seit gut zehn Jahren findet Harlans ungeheures Wissen über die deutsche Untat seinen Niederschlag in einer Prosa, die literarisch wohl zum wertvollsten gehört, was die deutsche Nachkriegsdichtung hervorgebracht hat. Im Jahre 2000 erschien sein erster Roman „Rosa“, der vom ersten deutschen Vernichtungslager Kulmhof handelt. 2006 erschien „Heldenfriedhof“, der vom Nachkriegsschicksal des Personals der „Aktion Reinhardt“ handelt, und 2007 die Erzählungen in dem Band „Die Stadt Ys“.
Harlans Romane sind eigentlich Klagegesänge, sprachlich beeindruckend schön, inhaltlich zum Ausdruck bringend, daß die Rede von der alleinigen Täterschaft der SS eine absurde Unwahrheit darstellt. Nicht nur haben alle zuständigen deutschen Behörden am Genozid mitgewirkt, die Justiz, die Zivilverwaltungen oder das Auswärtige Amt; auch haben weitere Institutionen eigenhändig gemordet: Polizeibataillone, die Wehrmacht, und schließlich die T 4, jene Organisation, die zunächst die so genannte Euthanasie durchführte, den Mord an 70.000 deutschen Heimbewohnern bis zum Sommer 1941. Die T 4 war eine Dienststelle der „Kanzlei des Führers“, Hitlers Privatkanzlei, und hatte den Befehlsweg betreffend mit der SS nichts zu tun. Die Mitarbeiter der T 4 waren die ersten deutschen Vergasungsspezialisten. Sie betrieben, was bis heute fast niemandem bewußt ist, die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ Belzec, Sobibor und Treblinka und vernichteten dort vermutlich nahezu 2,5 Millionen Juden. Die Täterschaft dieser medizinisch geprägten Organisation – vergessen wir nicht, daß jedes einzelne der 70.000 Opfer der „Euthanasie“ durch einen ärztlichen Beschluß ermordet wurde – erklärt auch, warum ein Arzt, Dr. Irmfried Eberl, der erste Kommandant von Treblinka war. Sein Nachfolger Franz Stangl war zuvor in der Euthanasie-Anstalt Hartheim tätig gewesen. Die SS, selber mit ihren Einsatzkommandos und den Vernichtungslagern Kulmhof, Auschwitz und Majdanek die Vernichtung betreibend, besorgte im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ die Belieferung der Lager mit den Opfern. Dieser Belieferung, durchgeführt vornehmlich vom durch Marcel Reich-Ranickis Memoiren berühmt gewordenen Sturmbannführer Hermann Höfle, fielen freilich selber schon Hunderttausende zum Opfer, die während der Razzien ermordet wurden oder auf dem Transport starben. Die Täterschaft der T 4 aber ist wohl aus zwei Gründen dem Blickfeld der Öffentlichkeit entrückt: erstens war die SS (in Person des SS- und Polizeiführers von Lublin, Odilo Globocnik) de jure verantwortlich für die gesamte „Aktion Reinhardt“, und somit eben auch für den Betrieb der Lager. Dieser Umstand wurde dementsprechend auch in den Prozessen zu Belzec, Sobibor und Treblinka von den Gerichten festgestellt. Und zweitens fand ein Prozeß gegen den Geschäftsführer der T 4, Dietrich Allers, nur wegen der Durchführung der Euthanasie statt. Das Ermittlungsverfahren gegen Allers als Hauptverantwortlichem der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ war 1966 eingestellt worden, eben weil der Prozeß wegen seiner Beteiligung an der Euthanasie eröffnet werden konnte. Der einzige weitere Hauptverantwortliche der T 4, der außer Allers noch lebte, Werner Blankenburg, Amtschef der Kanzlei des Führers und somit Vorgesetzter von Allers, hatte bis zu seinem Tode 1957 unter falschem Namen in Stuttgart gelebt.
Die Namen Allers, Höfle und Blankenburg ziehen sich wie ein roter Faden durch „Heldenfriedhof“. Sie stehen dafür, daß einige der hochrangigsten Mörder bis heute nicht in ihren Positionen wahrgenommen wurden, daß kein Bewußtsein sie erinnert. In diesem Dunkel der Erkenntnis konnten Mörder und sonstige Funktionäre wieder Karriere machen, Polizeichef werden, Medizinprofessor, einer sogar Bundeskanzler. Ein SS-Offizier aus Auschwitz war zum Zeitpunkt des Auschwitz-Prozesses Schuldirektor und Mitglied der Schulbuchkommission in Baden-Württemberg. Und zugleich stehen diese Namen dafür, daß wir immer noch keine profunde Kenntnis des Geschehenen besitzen, daß wir immer noch denken, die Vergasung habe ein paar Minuten gedauert und Heinrich Lübke sei das Opfer ostzonaler Verleumdung gewesen. Wenn auch Gesinnung und Haltung unserer Gesellschaft zum Dritten Reich politisch korrekt sind und kein Oettinger mehr durchkommt mit obskuren Grabreden, so diffus ist doch unser Verständnis im Einzelnen geblieben. Ansonsten wüßten wir, daß John Demjanjuk nichts war als ein Kalfaktor im Stabe Dietrich Allers und Werner Blankenburgs.
Harlans Beitrag zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ist nicht zu unterschätzen. Als Beispiel sei der „Frankreich-Komplex“ genannt, die Ermittlungen der Zentralen Stelle zu den Verbrechen der Deutschen in Frankreich, die mit Harlans Strafanzeige gegen 93 tatbeteiligte Personen, zu denen auch Klaus Barbie gehörte, begann. Harlan vernahm auch Zeugen in Polen und der Sowjetunion, die er an die Justiz weiter vermittelte. Daß diese Arbeit selten in Anklagen und noch seltener in Gerichtsurteile mündete, hat mehr mit dem generellen Unwillen der bundesdeutschen Gesellschaft und ihrer Justiz, NS-Täter zu bestrafen, zu tun. So stellte die Staatsanwaltschaft in München das Verfahren gegen Klaus Barbie 1971 ein, da man nicht davon ausgehen könne, daß ihm das weitere Schicksal der von ihm deportierten Juden bekannt gewesen sei.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Kommentar
2. Harlan war als Materialquelle für Ludwigsburg von überragender Bedeutung, zumal westdeutsche Strafverfolger als Beamte damals nicht in den Ostblock reisen durften. Aber die Zentrale Stelle hatte sicher auch noch andere Quellen.
Kommentar
1. Es ist bis heute ein Skandal, dass hochrangigen und auch niederrangigen NS-Täter ein fast reibungsloser Übergang in die Bundesrepublik gelingen konnte - mit zum Teil erheblichen Karrieren. Ein Interesse an einer echten Aufarbeitung hat es in Deutschland nicht gegeben. Anders ist es nicht zu erklären, dass selbst im Parlament unter den verfassungstreuen Parteien zum Teil NS-Eliten plötzlich die Demokraten spielen konnten. Und das mit Wissen vieler anderer Parlamentarier.
2. Unklar ist mir der Zusammenhang zwischen Thomas Harlans Archivarbeit in Polen und der Arbeit der Zentralstelle in Ludwigsburg geblieben. Hat Thomas Harlan die Archive in Ludwigsburg erst aufgefüllt?