Die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ (Heft 2/2020) widmet sich dem Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Untersucht werden die politischen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen, die auf dieses Verhältnis eingewirkt haben, aber auch ausgewählte Akteure und Akteursgruppen. Hartmut Berghoff und Malte Thießen haben als Gastherausgeber ein breites Spektrum von Beiträgen zusammengeführt. Eine der übergreifenden Thesen lautet, dass „Privatisierungen von Krankenhäusern, Pflegebetrieben und Medikamentenproduktion Hand in Hand gingen mit neuen Praktiken staatlicher Regulierungen“ (mehr dazu im Editorial).
Der Gesundheitsmarkt steht im Spannungsfeld von Patientenwohl, Allgemeinwohl und ökonomischen Interessen. In Krisenzeiten wird dieses Spannungsfeld besonders gut sichtbar. So wirft die Corona-Pandemie seit dem Frühjahr 2020 fundamentale Fragen auf, wer eigentlich die Daseinsfürsorge leistet, ja in welcher Gesellschaft wir überhaupt leben wollen. Die Aktualität solcher Debatten lässt schnell vergessen, wie lange schon – nicht nur in Deutschland – über den Konnex von Gesundheit und Ökonomie diskutiert wird. Politiker, Mediziner und Unternehmer streiten seit mehr als 150 Jahren darüber, wer für die Gesundheit des Einzelnen und für die „Volksgesundheit“ verantwortlich sei. Wie viel Wettbewerb vertragen – oder erfordern – Gesundheitspolitik und öffentliches Gesundheitswesen? Wie lässt sich der Gesundheitsmarkt kontrollieren? Wie eng dürfen Politik und Ökonomie, wie eng auch medizinische Wissenschaft und Wirtschaft miteinander verflochten sein? Diesen und weiteren Fragen spürt das Themenheft nach, um neue Einblicke in die jüngere und jüngste Zeitgeschichte zu gewinnen.
Ausführliche Fallstudien betrachten die Ökonomisierung der Altenpflege in der Bundesrepublik Deutschland und in England (Nicole Kramer), die komplementären Logiken von „Plan“ und „Markt“ in der Gegenwartsgeschichte des bundesdeutschen Krankenhauses (Richard Kühl/Henning Tümmers), die gewachsene Bedeutung von Patentrechten für die Großunternehmen der Pharmawirtschaft (Robert Bernsee) sowie den Aushandlungsprozess über das technisch Machbare und das ethisch Vertretbare in der westdeutschen Reproduktionsmedizin besonders der 1980er-Jahre (Denise Lehner-Renken).
Natürlich waren und sind derartige Debatten keineswegs auf die Bundesrepublik Deutschland oder auf die westlichen Industriegesellschaften beschränkt. Wie Martin Lengwiler in einem Essay zur Fachentwicklung der Gesundheitsökonomie herausarbeitet, waren neben sozialreformerischen Impulsen aus dem Umfeld des US-amerikanischen „New Deal“ auch Initiativen auf der Ebene der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sehr wichtig, bei denen die Staaten des Globalen Südens stärker im Fokus standen. So schärft Lengwiler den Blick für eine politische Polyvalenz: „Die Geschichte der Gesundheitsökonomie lässt sich nicht einfach als hegemoniale Intervention der Wirtschaftswissenschaften in die Hoheitsgebiete der Medizin oder gar als verkappter neoliberaler Angriff auf die Grundwerte des Gesundheitswesens interpretieren.“
In einem weiteren Essay warnt Jutta Braun vor einer retrospektiven Idealisierung des Gesundheitssystems der DDR. Anja Laukötter erinnert an die jahrzehntelang beliebte Fernsehserie „Medizin nach Noten“ als ostdeutschen Versuch einer kollektiven Körperertüchtigung. Dass „Anti-Aging“-Produkte bereits in den 1920er-Jahren sehr populär waren, zeigt Benjamin Glöckler anhand von Werbeanzeigen aus Illustrierten der Weimarer Republik. Und in der Rubrik „Neu gelesen“ präsentiert Winfried Süß mit Ivan Illichs Buch „Medical Nemesis“ von 1975 einen schillernden „Bestseller der Medizinkritik“.
Verschiedentlich gab es den Wunsch, in unseren Themenheften auch Raum zu lassen für Einzelbeiträge außerhalb des jeweiligen Schwerpunktes. Deshalb haben wir nun eine „Extra“-Rubrik eingeführt, die Beiträge unterschiedlicher Textgenres enthalten kann. Zum Start dieses Zusatzangebots schreiben Christina von Hodenberg und Katrin Moeller im vorliegenden Heft über das Quellenmaterial der „Bonner Längsschnittstudie des Alterns“ (BOLSA, 1965–1984). Damit leisten sie zugleich einen Beitrag zur Debatte um die Definition, Erschließung und Nutzung von „Forschungsdaten“ für die Zeitgeschichte.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access. Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autorinnen und Autoren finden sich auf unserer Website.