Das aktuelle Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ (1/2022) bietet geographisch, thematisch und methodisch ein breites Spektrum unterschiedlicher Beiträge. Ein Schwerpunkt liegt diesmal auf audiovisuellen Quellen und gegenwärtigen Debatten zur Geschichte des Nationalsozialismus. Besonders freuen wir uns, die Abschiedsvorlesung dokumentieren zu können, die Michael Wildt im Februar 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat („Was heißt: Singularität des Holocaust?“). Vor dem Hintergrund geschichtspolitisch aufgeladener Debatten, wie sie zuletzt etwa im Umfeld der documenta fifteen kulminierten und eskalierten, formuliert er „ein Plädoyer für mehr Offenheit und Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven auf Vergangenheit zu akzeptieren, ohne sie zu nivellieren oder zu hierarchisieren“. Verbunden ist dies mit einer profunden Zwischenbilanz zur jüngeren Historiographie des Holocaust als eines „komplexen Gewaltgeschehens“, das „mit dem Begriff der Singularität wissenschaftlich nicht (mehr) adäquat charakterisiert“ werden könne.
Geschichte weiterdenken
Neue Ausgabe der „Zeithistorischen Forschungen“
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In der Rubrik „Quellen“ zeigen Henning Borggräfe, Lukas Hennies und Christoph Rass den Nutzen (und die Grenzen) von Geoinformationssystemen für die Zeitgeschichtsforschung, und zwar anhand von Beispielen aus der Untersuchung von Flucht, Verfolgung und Migration in den 1930er- bis 1950er-Jahren. Michaela Scharf interpretiert die Familienfilme von Ellen Illich, die während der NS-Zeit in Wien als Jüdin verfolgt wurde, als audiovisuelle „Form der Selbstbehauptung“. Ebenfalls um Österreich geht es bei Anton Holzer, der die Selbstdarstellung der Stadt Mauthausen auf Postkarten der Zeit vor und nach 1945 untersucht („Sommerfrische und Verbrechen“). Eine der Ansichtskarten aus diesem Beitrag ist auch auf dem Cover unseres Hefts abgebildet.
Ein weiterer Schwerpunkt, der sich auf ganz unterschiedliche Weise in mehreren Texten des Hefts findet, ist die Frage nach dem Umgang mit Differenz und Heterogenität – einerseits in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen der Zeitgeschichte, andererseits auch in der heutigen (geschichts-)wissenschaftlichen Kommunikation. Frank Biess schildert eindringlich, dass die enorme Resonanz auf Günter Wallraffs Buch „Ganz unten“ (1985) in der Bundesrepublik zu wenig genutzt wurde, um über Rassismus und Anti-Rassismus grundsätzlicher zu diskutieren und der deutsch-türkischen Community dabei genauer zuzuhören. Rüdiger Graf greift demgegenüber aktuelle Diversitätsdebatten auf; er fragt, inwieweit die Geschichtswissenschaft inhaltlich und personell davon profitieren könnte, mehr „Neurodiversität“ zuzulassen. Eine intensivere Beschäftigung mit diesem Thema sei nützlich, um Vielfalt anzuerkennen und das Menschenbild zu erweitern, aber den Anspruch auf gemeinsam geteiltes Wissen nicht preiszugeben.
Zur geographischen und methodischen Breite des Hefts trägt auch ein Aufsatz von Hans Kühner bei, der „Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren“ untersucht. Im Kontrast zu den offiziellen Erfolgsmeldungen der chinesischen Regierung zeige die Analyse einer Vielzahl von Quellen zur Entwicklung der Armut, wie „unzuverlässig und widersprüchlich“ die Sozialdaten seien. „Nach wie vor bildet die Armut der Landbevölkerung die strukturelle Voraussetzung für das industrielle Wachstum“, stellt Kühner fest. Neben wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Daten kann er sich auf eigene Beobachtungen stützen, die er seit Mitte der 1970er-Jahre bei Forschungsaufenthalten in China gesammelt hat.
Ebenfalls einen sozialgeschichtlichen Zugriff wählt Marco Swiniartzki, aber mit einem wiederum ganz anderen Gegenstand und anderen Quellen: In seinem Aufsatz über die „New Wave of British Heavy Metal“ im Nordosten Englands verbindet er die Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre mit der Frage nach „musikkulturellen Vergemeinschaftungen“. Die Working Men’s Clubs in Newcastle und Umgebung werden als „Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs“ kenntlich, bei dem Arbeiterkultur und Jugendkultur, Klassenstrukturen und Geschlechterbeziehungen auf neue Weise in Bewegung kamen.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (seit dem Heft 1/2021 unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autor:innen finden sich auf unserer Website.