Das aktuelle Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ (1/2023), herausgegeben und eingeleitet von Jannis Panagiotidis und Florian Wagner, beschäftigt sich mit Ausweisungs-, Rückführungs- und Abschiebungspraktiken, die gerade in liberalen Demokratien einer rechtlichen Legitimation bedürfen. Während sich das nationale und internationale Recht nach 1945 eher zu Gunsten von Arbeitsmigrant:innen und Geflüchteten zu entwickeln schien, verstetigten sich gleichzeitig Praktiken und Routinen der Rückführung. Die Voraussetzung dafür war die Produktion von „Rückführbarkeit“ (Returnability), welche erzwungener oder (angeblich) freiwilliger Rückkehr den Weg bereitete – Inken Bartels und Simon Sperling zeigen dies gegenwartsnah und mit sozialwissenschaftlichem Instrumentarium anhand Deutschlands und Tunesiens.
Generell fragen die Autor:innen des Themenhefts nach diskursiven, rechtlichen und praxeologischen Bedingungen des Ausweisens, Rückführens und Abschiebens in transnationaler, vergleichender und migrantischer Sicht. Julia Wambach und Jasper Theodor Kauth schildern für die Weimarer Republik, wie sich überlappende Souveränitätsansprüche von Teilstaaten des Deutschen Reiches zu oft willkürlichen Ausweisungspraktiken führten (etwa von Württembergern aus Baden). Schon damals ging es um ein right-peopling, also um politische Definitionen des „Eigenen“ und des „Fremden“. Dies konnte auch deutsche Beamte und ihre Familien treffen, die während der alliierten Besetzung des Rheinlandes in den 1920er-Jahren von dort ausgewiesen wurden (aber später zurückkehren konnten).
Nach 1945 verstand sich die Bundesrepublik Deutschland trotz vielfältiger Migrationsbewegungen lange Zeit dezidiert als „Nichteinwanderungsland“. Rückführungen wurden daher zum Mittel, Migration umzukehren und die vermeintliche ethnische Homogenität wiederherzustellen. Erzwungene Abschiebungen wurden nun jedoch vor dem historischen Hintergrund der Massendeportationen des Nationalsozialismus verhandelt und kritisiert. Darüber hinaus rücken die Beiträge des Themenhefts auch die postkolonialen und globalen Verflechtungen von Migration nach und Abschiebungen aus Deutschland in den Fokus.
In den Fallstudien etwa zum bundesdeutschen Umgang mit People of Color und ihren Aufenthaltsrechten (Florian Wagner) oder zu den Konflikten um Asyl und Zurückweisungen in der Transitzone am Frankfurter Flughafen (Carolin Liebisch-Gümüş) wird deutlich: Lokale Konstellationen und die jeweils beteiligten Akteursgruppen (wie kommunale Behörden, Wohlfahrtsverbände oder Hilfsinitiativen) waren für die Abschiebepraxis häufig ebenso entscheidend wie die nationale Ebene der „Ausländerpolitik“. Zudem zeigt sich, dass Rechtsnormen und Rechtspraktiken keineswegs immer eindeutig, „neutral“ und stabil waren. Vielmehr folgten sie politischen Konjunkturen, kulturellen Stereotypen und sozialen Handlungsmustern im Umgang mit „Anderen“. Die Überlagerung von nationalem, europäischem und internationalem Recht sorgt dabei für eine besondere Komplexität des Themas, etwa in der Frage des Bleiberechts und des menschenrechtlich fundierten Schutzes (Jannis Panagiotidis). Schließlich ist es unbedingt wichtig, neben politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen auch die migrantischen Erfahrungen als Teil der deutschen und europäischen Gesellschaftsgeschichte stärker als bisher sicht- und hörbar zu machen.
Als „Extra“ außerhalb des Themenschwerpunkts enthält das Heft einen Essay von Felix Axster über das verbreitete Deutungsschema, die „Wende“ der Jahre 1989/90 und die nachfolgende deutsch-deutsche Transformationsgeschichte als westlich dominierte „Kolonisierung“ zu bewerten. Wie entstand dieses Interpretationsmuster, und worin liegt seine fortwirkende Attraktivität? Wie hängen die Konjunkturen „ostkolonialer“ und „postkolonialer“ Kritik zusammen? Welche längeren Diskurstraditionen schwingen dabei mit? Axster argumentiert bewusst vorsichtig: „Trotz der Nivellierungsgefahr könnte es sich als Erkenntnisgewinn erweisen, solche Verknüpfungen überhaupt erst denkbar zu machen, Irritationen zuzulassen und genauer nach teils gemeinsamen, teils spezifischen Strukturen und Erfahrungswelten zu fragen.“
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access (seit dem Heft 1/2021 unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 für alle neuen Texte). Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen für künftige Hefte sind jederzeit willkommen – nähere Hinweise für Autor:innen finden sich auf unserer Website. Wir sind sehr interessiert daran, Diskussionszusammenhänge aus Themenheften in späteren „offenen“ Heften fortzuführen (vgl. das Heftarchiv). Generell sind aber Vorschläge zum gesamten Spektrum der Zeitgeschichte möglich und erwünscht.