3. Zu den Methoden der Diem-Apologie gehört auch das Herunterspielen von Diems Gestaltungsmöglichkeiten – um damit auch dessen Verantwortung verkleinern zu können. Diem habe niemals „in der ersten Reihe“ gestanden, behauptet Krüger. Das ist falsch. Die Vorgesetzten, die Diem hatte, waren oft nur Galionsfiguren, die ihren „Generalsekretär“ oder „Prorektor“ nach dessen Belieben schalten und walten ließen. „Diem war eine kleine Nummer“, äußert Krüger zudem, „und der Sport war kein Thema, mit dem sich die Eliten ensthaft auseinandergesetzt hätten“. Auch diese Einschätzung geht völlig in die Irre. Schon im Kaiserreich waren es vor allem die Eliten, die sich für den Sport begeisterten; in den Jahren der Weimarer Republik sorgte ein regelrechter Sportboom dafür, dass der Sport in Politik und Medien, Wirtschaft und Militär zu einer viel beachteten Größe wurde. 1933 wertete ihn der NS-Staat zusätzlich auf: Der Sport war wichtig für das, was die Nationalsozialisten „Rassenpflege“ nannten, und er wurde massiv als Instrument der Auslandspropaganda und für die Massenunterhaltung genutzt. Im Frühjahr 1933 stritten sich mehrere Ministerien darum, wer den Sport in seinen Zuständigkeitsbereich überführen dürfe.[10]
Die „kleine Nummer“ Diem verkehrte seit der Gründung des „Jungdeutschlandbundes“ 1911 (der die Wehrertüchtigung der deutschen Jugend betrieb) mit hochrangigen Politikern und Generälen[11]; als er 1939 das Angebot der NS-Führung annahm, die für Anfang 1940 geplanten Olympischen Winterspiele zu organisieren, sprach er sich in der Folge mit Hitler persönlich ab.[12] Schon 1934 war er in Rom von Mussolini empfangen worden.[13]
Falsch ist es auch, wenn Krüger behauptet, die Umbenennung des Carl Diem-Weges und des Hindenburgplatzes im westfälischen Münster seien nur deshalb erfolgt, weil man die „Namen der so genannten großen Männer“ zurückdrängen wolle. In beiden Fällen orientierte sich die Stadtverwaltung am Urteil einer Straßennamenkommission, der renommierte Historiker angehörten. Diese Kommission empfahl die Umbenennung des Diem-Weges, weil der Protagonist durch die Ergebnisse meiner Biografie hoch belastet sei; für die Umbenennung des Hindenburg-Platzes wurde votiert, weil die Biografie von Wolfram Pyta den Nachweis erbracht hat, dass Hindenburg bereits in der Zeit der Präsidialkabinette gezielt auf die Beseitigung der Weimarer Demokratie hinarbeitete und Hitler im Januar 1933 im vollen Bewusstsein der Tragweite seines Tuns zum Reichskanzler ernannte.[14]
Nachdem Krüger schon mit einer Intervention in der Debatte um den Carl Diem-Weg gescheitert war, gehörte er einige Zeit später zu den Unterzeichnern eines Briefes an den Oberbürgermeister von Münster, in dem die Beibehaltung des Namens Hindenburg-Platz gefordert wurde; es gebe keinen Grund für eine Umbenennung. Sämtliche Professoren und Mitarbeiter des Historischen Seminars der Universität Münster sprachen sich hingegen mit Hinweis auf den Forschungsstand für die Umbenennung des Platzes aus. Krüger stand also im Konflikt mit der gebündelten geschichtswissenschaftlichen Kompetenz der Universität – so wie er auch in der „causa Diem“ im Hinblick auf die Antisemitismus-Frage besser urteilen zu können glaubte als die Wissenschaftler vom „Zentrum für Antisemitismusforschung“ an der TU Berlin.
In den Folgemonaten musste Krüger erleben, dass die Pro-Hindenburg-Initiative zunächst die öffentliche Auseinandersetzung verlor; anschließend scheiterte sie im September 2012 bei einem Bürgerentscheid: Die Wählerinnen und Wähler der Stadt votierten für den neuen Namen Schlossplatz. Diese Entscheidung rechnet Krüger in seinem Interview der „gebildeten bürgerlichen Klasse“ zu – ein klassenkämpferisches Vokabular, das seltsam berührt.
Krüger scheint zu glauben, Diems politische Einstellung lasse sich aufgrund der Aussagen von dritten Personen bestimmen, die nur in einem losen Kontakt zu ihm standen. Das für geschichtswissenschaftliches Arbeiten grundlegende Verfahren der Quellenkritik wird von Krüger ignoriert. Sonst wäre ihm aufgefallen, dass Robert Atlasz, jener jüdische Sportfunktionär, der 1937 nach Israel floh und anschließend äußerte, dass Diem „als Mann von 'unzweifelhaft demokratischer Gesinnung' galt“, dieses Urteil nicht einmal selbst fällte, sondern auf das Urteil anderer Personen hinwies – ohne deren Namen angeben zu können. Diem soll als Demokrat 'gegolten haben'... wann? bei wem? Solche vagen Außenbeobachtungen ex post, wie Atlasz sie hier vornimmt, werden von jedem Historiker als praktisch wertlos eingestuft. Dagegen gibt es eine Fülle von Selbstzeugnissen, die direkten Einblick in Diems politisches Denken geben und unmissverständlich zeigen, dass Diem alles andere als eine 'demokratische Gesinnung' hegte. So schrieb er 1932, unter vielen schlechten Regierungsformen sei die Diktatur immer noch die relativ beste.[15]
Abschließend kann man nur noch einmal betonen, wie gut der DOSB daran tat, Krüger und seinem Beirat das Vertrauen zu entziehen. Hoffentlich ist jetzt der Weg frei für eine realistische und wissenschaftlich seriöse Beurteilung Diems – und für ein auf solcher Beurteilung beruhendes geschichtspolitisches Handeln.
[1] Historikerstreit um Diem, in: Der Spiegel 25 (21.6.2010), S. 149 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-71030058.html).
[2] Eine Bilanz hat im wissenschaftlichen Schrifttum inzwischen auch bereits vorgelegt Horst Thum, Nationalist, Militarist, Antisemit? Carl Diem im Spiegel seiner Kritiker und Apologeten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), H. 10, S. 831-842.
[3] Carl Diem, Sturmlauf durch Frankreich, in: Reichssportblatt vom 25. Juni 1940.
[4] Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bd. I: Kaiserreich, Duisburg 2009; Bd. II: Weimarer Republik, Duisburg 2011.
[5] Ralf Schäfer, Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus: Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011; ders., Carl Diem, der Antisemitismus und das NS-Regime, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), H. 3, S. 252-263.
[6] Dieter Langewiesche, Rezension zu Ralf Schäfer, Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus: Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 (http://www.sehepunkte.de/2012/06/21495.html).
[7] Michael Krüger, Einleitung, in: ders. (Hg.), Erinnerungen an Carl Diem, Münster 2009, S. 1-5, hier 4.
[8] Karl Lennartz, Rezension zu Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bde. I, III u. IV, Duisburg 2009-10, in: Stadion 35 (2010), S. 373-388, hier 383.
[9] Die Empfehlung des Beirats ist abgedruckt in: Michael Krüger, In Sachen Carl Diem – auf den Spuren der Wahrheit, in: Olympisches Feuer 59 (2010) 4-5, S. 42-47, hier 45f. Dass die Aussagen dieses Textes meinen Forschungsergebnissen völlig zuwiderlaufen, weist im Detail mein Aufsatz nach: Frank Becker, Carl Diem und der Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), H. 3, S. 242-251.
[10] Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bd. III: NS-Zeit, Duisburg 2009, S. 20ff.
[11] Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bd. I: Kaiserreich, Duisburg 2009, S. 129ff.
[12] Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bd. III: NS-Zeit, Duisburg 2009, S. 175ff.
[13] Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bd. III: NS-Zeit, Duisburg 2009, S. 95ff.
[14]Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007.
[15] Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). Bd. II: Weimarer Republik, Duisburg 2011, S. 258.