In diesem Zusammenhang kommt der transkulturell vergleichenden Philosophie und dem philosophischen Dialog zwischen Deutschland und China eine große Bedeutung zu: In der chinesischen akademischen Landschaft ist ein Diskurs entbrannt, inwiefern es sinnvoll ist, die dreitausendjährige chinesische Tradition der Philosophie und Politpraxis (wie bisher oftmals noch praktiziert) mit den Mitteln und am Leitfaden westlicher Philosophie zu reflektieren. Als ‚westlich‘ gilt dabei oftmals allerdings einseitig und mehrheitlich aufgrund der sonstigen sprachlichen Hürden das, was der englischsprachige Philosophiediskurs anbietet, der wiederum selber in großen Teilen die Rückbindung an die kontinentaleuropäische und z. B. auch die deutschsprachige Philosophietradition verneint.
Die Kenntnisse hinsichtlich der europäischen Tradition sind dabei auf chinesischer Seite im Durchschnitt zwar meistens noch besser als vergleichsweise die vieler westlicher bzw. deutscher Philosophen im Blick auf die chinesische Philosophietradition – allein, auch hier erreichen die Kenntnisse und das Verständnis des kulturell „Anderen“ in vielen Fällen noch nicht die für die weitere Zukunft wünschenswerte Tiefe. Dies führt dann in Folge derzeitiger „Abnabelungsversuche“ stellenweise wiederum zu grob vereinfachenden oder gar falschen inhaltlichen Annahmen, was denn abendländische Denktraditionen ausmache. Hier herrscht Arbeitsbedarf, denn in weiterer Folge werden stellenweise hinkende und grob vereinfachende Vergleiche europäischer und chinesischer Philosophie vorgenommen, die wiederum in Zukunft die Gefahr der Ausbildung von Ressentiments gegenüber der in China in weiten Teilen noch zu wenig verstandenen abendländischen Tradition begünstigen könnten.
So wertvoll sicherlich die Guoxue nach den Selbstzerstörungen der chinesischen Tradition im 20. Jahrhundert (Stichwort „Kulturrevolution“) als eine Art kultureller Heilungsprozess derzeit wirkt, umso mehr muss man meines Erachtens aufpassen, dass diese Entwicklung auch von westlicher Seite mit den Mitteln der komparativen Philosophie und des interkulturellen Dialoges begleitet wird und dass man zu einem gemeinsamen Dialog und Weg und Verständnis gelangt, das gerade auf der Wertschätzung der Unterschiede und der daraus resultierenden Bereicherung der Weltphilosophie beruht. Die Rückbesinnung Chinas auf seine Traditionen darf nicht Grundlage eines sich abkapselnden neuen chinesischen Nationalismus werden.
Daher sind die vergleichende Philosophiegeschichte und der interkulturelle Diskurs auch hier gefragt, um der chinesischen Seite während man sich in der chinesischen Denktradition professionalisiert zugleich die Vielfalt und den weiten historischen Horizont der europäischen Philosophien des Antike, des Mittelalters, der Frühen Neuzeit bis zum Anbruch der industriell basierten Moderne (transkulturell zusammenschauend und vergleichend) zu vermitteln. Dabei gilt es grob verzerrende und vereinfachende Antagonismen (z. B. der Westen=individualistisch vs. China=kollektivistisch) genauso zu vermeiden, wie einen alles zum Einerlei vernebelnden Drang nach falsch verstandener (Pseudo-)„Einheit“.
Nur indem man sich so intellektuell behände an dieser Skylla und jener Charybdis vorbeibewegt, können beide großartigen Traditionen des Denkens im Dialog lebendig erhalten werden und voneinander lernen, ohne ihre Eigenständigkeit und ihren über Jahrtausende erworbenen Reichtum aufgeben zu müssen.
Der erste Schritt auf diesem Weg besteht meines Erachtens darin, sich vermehrt auf China und die gegenwärtigen Diskurse zuzubewegen. Dies kann nur durch vergleichende Forschung und zugleich aneignende Auseinandersetzung historischer chinesischer Philosophien geschehen. Man muss sich aber auch vor Ort, d. h. nach China bewegen: Die Forschungsarbeit sollte in jedem Fall in direkter menschlicher Fühlung mit den Diskursen zur chinesischen Tradition vor Ort geschehen.
Der Autor des Vorliegenden bewegt sich seit mehr als sieben Jahren aktiv auf diesem Weg. Als Frucht dieser Zeit erschien 2015 die transkulturell komparative Dissertationsschrift „Wissendes Nichtwissen“ oder „gutes Wissen“. Zum philosophischen Denken von Nicolaus Cusanus und Wang Yangming, die auch von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wurde.
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Kommentar
Ihr Projekt interessiert mich aus zweierlei Gründen:
Erstens, weil ich mich als Schüler von Hans Blumenberg seit langem mit der Anthropologie des Cusaners beschäftigt habe und auf der Suche nach Parallelen zu seinem complicatio-explicatio-Theorem bin.
Zweitens, weil ich als Herausgeber des Reclam-Bändchens Konfuzius, Das Buch von Maß und Mitte gern gewusst hätte, ob meine Sichtweise auf den Konfuzianismus in der VR China heute noch geteilt wird. Ich bin nur ein Hobby-Sinologe und wäre daher für eine kritische Stellungnahme dankbar.
Mit besten Grüßen,
FF