Bei mehreren Besuchen im Atelier und dem Vergleich verwandter Motive aus verschiedenen Schaffensphasen des Künstlers fiel dem Autor auf, dass Xue Xiaoyuan über die Jahre einen ganz besonderen Stil entwickelt hat. Das motivische Faible hängt mit seinen weiteren Tätigkeiten und Arbeitsfeldern, auch denen als Herausgeber von Übersetzungen klassischer Werke der deutschsprachigen Geistesgeschichte, thematisch zusammen. Das besondere ist wie gesagt, dass die großen Denker und Künstler mittels einer ganz traditionellen chinesischen Maltechnik in eine, um es so zu fassen, „fluktuierende Schwebe“ eines momentanten situativen Ausdrucks hinein projiziert werden: Eine Resonanz von Bild und Künstler, die im Moment des Schaffens zu Tage tritt, wird im Bild und als eben dieses Bild gewissermaßen aufgespeichert, aufgehoben – in einem energetischen „Musterspeicher“, als einem Kunstobjekt aus Tinte und Papier. Sobald wir darauf hinblicken, kommen seine Farben und Formen klar hervor, das wache, wahrende Bewusstsein gerät instantan in nachempfindende Resonanz mit jener zuerst genannten ursprünglicheren Resonanz. Auf einzigartige Weise gelingt es Xue dabei, die Charaktere der Persönlichkeiten zu vermitteln, mit der im Bild aufzurufenden eigenen Lebensenergie zu verbinden, so ein nachempfindendes Verständnis jenseits bloßer objektiver Beschreibung zu initiieren.
Kurz: Jedes Bild ist auch eine situative Aufnahme; sie bildet den Schaffensprozess selbst ab, nicht bloß ein Motiv, nicht bloß einen Abgebildeten. Chinesische Malerei ist ein wenig wie Musik, jeder Pinselstrich bzw. der ganze Vorgang hat seinen charakteristischen Rhythmus. Damit verbunden ist im vorliegenden konkreten Fall, von dem hier berichtet wird, die konkrete Erfahrung einer kulturellen Schenkung. Der Künstler hat im Beisein des Autors in Beijing ein Bild Wang Yangmings, des großen chinesischen Denkers der Mingzeit gemalt. Er vermachte es dem Autoren gleich zwiefach: Und dieser verdankt wiederum – hoffentlich der Bedeutsamkeit der Schenkung genügend nachdenkend, dieser Situation, jenem ursprünglichen Impuls des Künstlers dankend nachfolgend, nun zudem eine neue Einsicht.
Der basalere Hintergrund dafür ist, dass der Autor, der derzeit als Professor an einer Beijinger Universität arbeitet, zwar in der deutschsprachigen Denktradition einerseits beheimatet ist, diese aber eben auch über dem Umweg des chinesischen Denkens, insbesondere der Philosophie Wang Yangmings jahrelang geradezu neu sehen gelernt hat. Die Basis einer dabei sich parallel vollziehenden Aneignung der Philosophie Wang Yangmings ist seitdem eine transkulturell komparative Forschungsperspektive: Handlungsleitend ist dabei die Einsicht, dass es für nichtchinesische Forscher am erfolgversprechendsten sein muss, die Beschäftigung mit der vormodernen chinesischen Philosophie auf komparativem Wege zu versuchen – und dass, nicht zuletzt, um differenzieren zu lernen. Wir sollten uns davon lösen, unbedarft Horizonte eines uns vielleicht näheren Kontexts auf einer andere, für uns vielleicht noch entferntere Denk- und Kulturmaterie zu projizieren oder dieser gar gleichsam aufpropfen zu wollen. Wir gewinnen dabei, indem notwendig charakteristische Denkprozesse kultiviert werden, bei denen nicht nur Klassiker des abendländischen Denkens nachgezeichnet werden, sondern die philosophische Suche führt zu der unausweichlichen Aufgabe, sich eben auch in geistige Resonanz mit alten chinesischen Meistern wie Wang Yangming zu bringen zu versuchen. Und gerade auch Wang Yangming ist, wie freilich viele andere chinesische Denkgrößen der Vergangenheit, auch heute noch ein Geschenk für alle geistig Interessierten. Das moderne Philosophenleben ist das eines (nicht nur geistig?) Weltreisenden: Gerade Wang Yangmings Denken gilt als Königsweg in die chinesische Geistestradition, eine epochemachender Denker, dessen soziokulturelle Wirkung in Ostasien durchaus vergleichbar ist mit der Martin Luthers im Abendland.
Niemand könne chinesische Denktradition verstehen, der Wang Yangming nicht studiert hat, so sein erster amerikanischer Übersetzer Wing-tsit Chan (in moderner Umschrift: Chen Rongjie, 1901-1994) in den 1960er Jahren: Und Wang Yangming war nicht nur ein (chinesischer) Philosoph, sondern auch ein herausragender General, ein Strategie-Spezialist sondergleichen, ein – nach wie vor hoch gehandelter – Kalligraph, ein epochemachender Dichter, ein Meister im Bogenschießen. Sein Denken hat nicht nur die allgemeine Geschichte, sondern im Speziellen auch die Ästhetik der Mingdynastie zutiefst geprägt.