L.I.S.A.: Wo verläuft die Grenze des militärischen Kulturschutzes? Wie steht es insbesondere um die Unabhängigkeit und die Neutralität als Player im Kulturgutschutz? Und: Wie viele Menschenleben ist der Schutz von Kultur tatsächlich wert?
Gatzsche: Sie sprechen hier mehrere sehr interessante Punkte mit bewussten Spannungsfeldern an. Der Kulturschutz findet dabei von Seiten eines Militärs zumeist in Auslandseinsätze statt und bildet einen Konterpart zum militärischen Kulturgutschutz, der sowohl im Inland, wie auch im Ausland zur Anwendung kommt.
Gerne wird der Vorwurf gebracht, die Kulturgutdefinition des internationalen Völkerrechts wäre zu abstrakt und für Soldaten wenig nachvollziehbar, eben zu exklusiv, und würde nicht die Einsatzrealität abbilden, da kulturell wichtige Güter nicht erfasst würden. Kulturgüter nach der Haager Konvention von 1954 sind definiert als bewegliche oder unbewegliche Güter, die für das kulturelle Erbe aller Völker von großer Bedeutung sind, ohne Rücksicht auf Herkunft und Eigentumsverhältnisse (z.B. Bau-, Kunst-, Geschichtsdenkmäler religiöser und weltlicher Art, Kunstwerke und Kultstätten, Gebäudegruppen von historischem oder künstlerischem Interesse, archäologische Stätten und Sammlungen, Kunstwerke, Manuskripte, Bücher). Darüber hinaus zählen dazu auch Gebäude zur Erhaltung oder Ausstellung dieser zuvor genannten Güter (wie Museen, Bibliotheken, Archive), Bergungsorte für Kulturgut und Denkmalsorte, das heißt Orte, die in beträchtlichem Umfang Kulturgut enthalten. Mit Sicherheit ist die Begriffsdefinition von Kultur an sich wesentlich weiter gefasst als die soeben genannten Begrifflichkeiten aus Artikel 1 der Haager Konvention. Hier entsteht aber auch ein wichtiges Spannungsfeld, welches in einem tatsächlichen militärischen Einsatz für die Streitkräfte relevant werden könnte:
Angenommen, Sie haben eine Einsatzsituation, wo Truppen stationiert werden, um dort zum Beispiel als Peacekeeping-Mission für den Frieden in der Bevölkerung zu sorgen. Nun haben Sie dort sehr viel Kulturgut. Jedoch nicht nur Kulturgut, welches für die aktuell dort lebenden Bevölkerung von Bedeutung ist, sondern auch Kulturgüter, die von dieser aufgrund des laufenden Konfliktes nicht gerne gesehen werden. So zum Beispiel im Irak, wo sich der Diktator Saddam Hussein selbst als Nachfolger der persischen Großkönige gesehen und das archäologisches Erbe für seine Zwecke besonders gefördert hat. Er hat antike Stätten rekonstruieren lassen und auch darüber hinaus die Archäologie im Land gefördert. Man muss allerdings dazu sagen, dass diese Kulturgüter auch für uns von hoher Bedeutung sind, schließlich befinden wir uns hier im historischen Zweistromland, Wiege des Ackerbaus und der ersten Hochkulturen der Menschheit. Darüber hinaus gäbe es in diesem Fall sogar eine religiöse Verbindung: Die Zikkurat, die auch Sadam Huseein rekonstruieren hat lassen, waren sehr wahrscheinlich auch die Vorlage für den sprichwörtlichen Turm zu Babel aus der christlichen Bibel, also im antiken Babylon.
Nach dem Sturz von Saddam Hussein wurde von der lokalen Bevölkerung das sich im Land befindliche Kulturgut stark mit seiner Herrschaft assoziiert. Der Hass der Menschen richtete sich folglich gegen viele Dinge, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Leider kam es im Zuge des Umsturzes zu Plünderungen ganzer Museen und Raubgrabungen, aber auch zu absichtlichen Kulturgutzerstörungen – und all das während der Verwaltung durch US-amerikanische Besatzungstruppen. Letztere haben sogar selbst Hubschrauberlandeplätze und Militärlager in archäologischen Gebieten angelegt. Es war eine Tragödie, die vor allem in der Fachwelt für Aufruhr gesorgt hat.
Für viele der lokalen Gesellschaften war aber in der aktuellen Situation nicht unbedingt von Bedeutung, dass hier Kulturgut, ob nun absichtlich oder „nebenher“, zerstört wurde. Wem gibt man hier also nach, wenn nun Kulturgut aktiv von lokalen Volksgruppen attackiert wird? Von Seiten der Einsatzführung wird ja grundsätzlich darauf wert gelegt, dass vor allem die Truppe vor Ort einen guten Stand hat, damit der Einsatz reibungslos ablaufen kann. Was passiert also, wenn wir nun Kulturgut zu schützen versuchen, was vielleicht für uns eine Bedeutung hat oder für eine Kultur, die gar nicht mehr existiert, jedoch gerade im aggressiven Fokus des betroffenen Volkes steht? Hier gibt es sicherlich einen Spannungspunkt zwischen Kulturschutz und Kulturgutschutz. Entweder es wird dem Interesse der Bevölkerung entsprochen, die das Kulturgut, das für sie keine Bedeutung mehr hat (außer die Assoziation mit dem ehemaligem Diktator) gerne zerstören möchte, oder es muss tatsächlich auch für den Schutz dieses Kulturgutes gesorgt werden, solange man sich im Einsatz befindet, was ja auch in der Haager Konvention gefordert wird.
Dem kann eigentlich nur mit gesamtheitlichen Maßnahmen begegnet werden, die auch in der lokalen Bevölkerung ein Bewusstsein schaffen, dass dieses Kulturgut auch für sie von Bedeutung ist. Und wenn es am Ende nur der touristische Nutzen ist - für die Zeit, in der wieder Frieden einkehrt. Unterschiedliche Menschen schätzen unterschiedliche Dinge in ihrer Bedeutung anders ein – auch ist das Brot bei einer schwierigen Versorgungslage wichtiger, als das antike Amulett, das im Boden gefunden wird und für Brot verkauft werden kann. Hier ist es äußerst wichtig, solange das Einsatzmandat läuft, gegenüber allem Kulturgut neutral aufzutreten und jegliche Kulturgutzerstörung zu unterbinden. Des Weiteren hat natürlich auch Kulturgut Bedeutung, das für uns vielleicht nicht direkt als solches erkennbar ist (Heilige Orte, besondere Gebäude, Objektreliquien etc.). Genau dafür müssen wir, wie bereits in der Haager Konvention von 1954 gefordert, Fachpersonen in den Armeen integrieren, die Kulturgut überhaupt erst identifizieren und mit den zivilen Kulturgutkräften vor Ort zusammenarbeiten, damit man dann in der Lage ist, dieses in der Einsatzplanung zu berücksichtigen.
Es ist außerdem falsch, der Argumentation zu folgen, in der Menschenleben gegen Objekte oder Gebäude aufgewogen wird, um anschließend eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung daraus ableiten zu können. Wenn Kulturgut zerstört wird, dann ist das zumeist nur ein Symptom der bestehenden Humanitären Katastrophe während eines Krieges. Darüber hinaus kann man auch weitere Kriegsverbrechen wie Folter oder Plünderung zählen, oder auch ein tiefer Eingriff in die Umwelt, bei dem auch Natur im großen Umfang in Mitleidenschaft gezogen wird. Diese Prozesse beobachten wir immer im Rahmen völkerrechtlicher Konflikte und jeder davon macht die Sache an sich nur schlimmer. Sie können Volksgruppen vertreiben oder auch auslöschen, aber wenn Sie außerdem ihre Kultur und ihre Hinterlassenschaften zerstören, wird es nichts mehr geben, was dort an sie erinnert – die Folge ist ein vollständiger Verlust aller erdenklichen Assoziations- oder Identifikationspunkte zu dieser verlorenen Bevölkerung.
Inwieweit Kulturgut tatsächlich von Bedeutung ist, sehen wir aktuell besonders am Beispiel der Ukraine. Museumsangestellte, Priester oder auch Menschen, die nicht aus dem Kulturbereich kommen, evakuieren die Objekte in den Museen, verbarrikadieren Kirchenfester oder sichern Denkmäler mit Sandsäcken gegen Splitter von Bomben. Sie bringen trotz der herannahenden Katastrophe ihre Sammlungen in Bunker und Kellergewölbe, um sich erst im Anschluss persönlich in Sicherheit zu bringen. Teilweise ziehen sie sogar mit Waffen selbst in den Krieg. Die Sicherung von Kulturgut ist auch eine Form der Selbstverteidigung. Wer sein eigenes Kulturgut vor dem Feind sichert, verteidigt ihm gegenüber damit auch seine eigene kulturelle Identität. Stellen Sie sich vor, Sie würden fliehen und es würde dort alles Kulturgut zerstört werden – wohin sollten Sie zurückkehren und warum gerade dorthin, wo nichts ist, zudem Sie zurückkehren können, wenn der Krieg vorbei ist? Sicherlich trifft das nicht auf alle Menschen zu, aber solange Sie Menschen haben, für die es von Bedeutung ist, ist es auch wert, beschützt zu werden. Die Katastrophe ist nun einmal da, wenn der Krieg ausbricht und es muss alles getan werden, dass das humanitäre Leid nicht noch größer wird, indem scheinbar abstrakte Identifikationsbegriffe wie Heimat, Kultur oder Identität mit realen Bomben zerstört werden.