Der Brexit, so heißt es von europäischer Seite, sei eine „historische Fehlentscheidung“. Damit soll ganz offenbar die besondere Schwere und Dramatik der Sache auf eine kurze Formel gebracht werden. Aber warum historisch? Diese Entscheidung, so suggeriert diese Formulierung, wird einen Unterschied machen, eine Wende, von der die Geschichtsbücher reden und wovon sie alle weiteren Entwicklungen abhängig machen werden.
Das macht die Rolle der Geschichte im politischen Meinungskampf, was jeder Wahlkampf ist, recht deutlich: In einer zunehmend komplexen Welt wird die Geschichte die „Wahrheit“ erweisen. In dem Ringen um die Deutungshoheit im Jetzt, wird die Geschichte vielfach instrumentalisiert: nicht nur als regelmäßig aufgerufene Bezugspunkte der Vergangenheit, wie die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch in die Zukunft gerichtet: Sie wird die Folgen umstrittener Entscheidungen sichtbar machen, Zukunftsvisionen als wahr oder falsch erweisen und – wie rückblickend beim Tod von Helmut Kohl beschworen – die historische Bedeutung der Akteure.
Dass die Würdigung historischer Ereignisse immer von den Sichtweisen der eigenen Zeit und Gesellschaft abhängt, Geschichte also nicht „objektiv“ sein kann, dafür ist dann wenig Platz. Aber eben durch dieses Verhandeln und selektive Aufrufen der Geschichte nicht zuletzt im Wahlkampf, wird die Geschichte erst zum gemeinsamen Erfahrungsraum, sie wird trotz – oder vielmehr wegen und mit all den Kontroversen – zu der Basis, auf der wir die Probleme und Herausforderungen der eigenen Zeit verhandeln. Deshalb ist es so wichtig, dass viele mitreden und ihren Standpunkt einbringen. Denn letztlich formt sich aus diesem Erfahrungsraum die Erwartungshaltung an die politischen Akteure heraus, die in Demokratien eine wichtige Macht ist.
Wie wichtig diese selbständige Meinungsbildung ist, wussten die Frauen im Nürnberger Klarissenkloster schon vor mehr als 500 Jahren, die ihre mächtige Gemeinschaft mit einem großen Wirtschaftsbetrieb eigenständig leiteten. Ende des 15. Jahrhunderts schrieben sie in unruhigen Zeiten ihre Geschichte mit allen Problemen und Kontroversen nur für die eigene Gemeinschaft auf zum „Gedächtnis der vergangenen Dinge, damit wir uns selbst regieren können auch für die Dinge, die zukünftig zu tun sein werden.“