Bis heute existieren im Oman sogenannte Lehmziegelsiedlungen, die zwar im Zuge von Modernisierungsprozessen in den 1970er-Jahren verlassen, jedoch nicht abgerissen wurden. Heute stehen die Siedlungen im Zentrum von Debatten von Wissenschaftlern und nationalen Institutionen, die den Verfall fürchten einerseits und lokaler Bevölkerung, die die Siedlungen nicht aufgeben wollen, andererseits. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt von Dr. Stephanie Döpper, Dr. Thomas Schmidt-Lux und Dr. Birgit Mershen widmet sich diesen Bauten – in unserer Interviewreihe haben wir den Projektbeteiligten unsere Fragen gestellt.
"Unser Projekt ist interdisziplinär organisiert"
L.I.S.A.: Dr. Döpper, Dr. Schmidt-Lux, Dr. Mershen, Sie arbeiten gemeinsam an einem Forschungsprojekt, das im Rahmen des Sonderprogramms Lost Cities der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird. Könnten Sie kurz erläutern, worum es in Ihrem Projekt geht? Warum ist es wissenschaftlich relevant, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
Dr. Döpper / Dr. Schmidt-Lux / Dr. Mershen: Die von uns erforschten Lost Cities befinden sich auf der Arabischen Halbinsel, genauer gesagt im Oman. Kurz gefasst, lebten die Menschen dort bis in die 1980er Jahre mehrheitlich in kleineren, aber zahlreichen Siedlungen, deren Gebäude vor allem aus Lehmziegeln, kombiniert mit Steinen, Palmenstämmen und ähnlichen Materialien, gebaut waren. Im Zuge rasanter Modernisierungsprozesse wurden diese Siedlungen dann aber zugunsten neuerer Siedlungen und Häuser verlassen und stehen seitdem weitgehend leer.
Uns interessiert nun, was genau mit den omanischen Lost Cities geschieht. Denn diese sind durch ihre schiere Materialität weiterhin präsent, sowohl für die Einheimischen, aber auch für Touristinnen und Touristen, die durchaus fasziniert, aber auch irritiert sind von den mitunter geisterhaft anmutenden leeren Siedlungen. Was stellen die Siedlungen für unterschiedliche Akteure jeweils dar? Sind sie schlichtweg die Reste einer überkommenen Zeit? Oder familiale und kommunale Erinnerungsorte? Oder Anknüpfungspunkte für in die Zukunft gerichtete Projekte und Unternehmungen?
Wissenschaftlich ist das für unterschiedliche Disziplinen interessant, und unser Projekt ist ja interdisziplinär organisiert. Im Bereich der Archäologie interessieren wir uns für die materielle Kultur der aufgelassenen Siedlungen und wie diese Zeugnis für ihr Verlassen, aber vor allem auch für spätere Aktivitäten sein kann. Zu solchen Aktivitäten gehören beispielsweise Freizeitbeschäftigungen wie Picknicken, aber auch das Deponieren oder Entsorgen von bestimmten Dingen.
Aus soziohistorischer und islamwissenschaftlicher Perspektive interessiert einerseits der Zusammenhang zwischen traditionellen kommunalen Institutionen und soziokulturellen Praktiken und ihrem räumlich-architektonischen Ausdruck und ihrer Verortung in den alten Siedlungsstrukturen der Falaj-Oasen Zentralomans. Andererseits wird untersucht, wie sich die ehemaligen Bewohner mit den soziokulturellen Auswirkungen des Auszugs aus den angestammten Siedlungsquartieren auseinandersetzen.
Kultursoziologisch haben wir mit den omanischen Lost Cities ein faszinierendes Beispiel für – global gesehen – nicht seltene Auf- und Abschwünge von Siedlungen und Städte. Der Umgang mit Städten, die ihren ursprünglichen Zweck verloren haben, kann uns viel über gesellschaftliche Leitideen, aber auch Vorstellungen von sozialem Wandel und Zeitlichkeit verraten.