Wie viel Geschichte steckte im diesjährigen Bundeswahlkampf in Deutschland? Handelte es sich um ein geschichtsloses Unterfangen? Und welche Anspielungen auf die drei Dimensionen von Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ließen sich festhalten? Dies waren die Fragen, die in der ersten Ausgabe von Der Geschichtstalk im Super7000 gestellt wurden. Im Vorfeld verfassten die Gäste des Talks, Prof. Dr. Antje Flüchter von der Universität Bielefeld, Prof. Dr. Eva Schlotheuber von der Universität Düsseldorf und Prof. Dr. Marko Demantowsky von der Pädagogischen Hochschule FHNW in Basel, ihre Ausgangspositionen, die es in diesem Beitrag noch einmal zum Nachlesen gibt.
Rückblick: Wahlkämpfe als Geschichtskämpfe? Politik historisch
Ausgangspositionen der Panelisten | Der Geschichtstalk im Super7000 vom 14. September 2017
Ausgangsposition von Marko Demantowsky
Zwischen welchen Zukunftsoptionen können wir wählen? Welche Erzählungen werden uns angeboten, um diese Optionen plausibel und attraktiv zu machen? Die aktuellen politischen Angebote erscheinen mir – zumindest in Deutschland – bemerkenswert zurückhaltend, wenn es um politisch-historische Sinnstiftung geht. Die Wahl fällt auch deshalb vielen schwer. Dabei sind solche Erzählungen doch wesentlich für eine gesamtgesellschaftliche Mindest-Kohäsion und die Fähigkeit zur Integration von „Fremden“. Anscheinend leben die meisten von uns momentan politisch wie in einer mühsam verewigten Gegenwart, pfeifen gleichsam im Wald, amüsieren sich zu Tode, weil die Zukunft pessimistisch nicht thematisiert werden will und diese ominöse Vergangenheit ihren Wert für uns zwangsläufig einbüsst. [Kein Wunder, dass auch die Leitkategorie des Geschichtsunterrichts heute „Kompetenz“ heisst.] Wozu noch Geschichte?, ist nach wie vor eine zu beantwortende Frage. – Wir sind umringt von kulturellen Beruhigungsmitteln, und das nicht nur auf der Berliner Geschichtsbaustelle. Kein Wunder dann auch, dass die Zuspitzung dieser Stillstellung: der radikale, teils völkische Konservatismus für die Sehnsucht nach Sinn ein veritables Angebot darstellt. Meine These ist deshalb: Ohne Vision muss man zum Arzt. Auch die westliche Demokratie.
Ausgangsposition von Antje Flüchter
Während in anderen Ländern der Kampf zwischen den Parteien auch als Kontroverse um Geschichtsdeutungen stattfindet, finden sich im deutschen Wahlkampf mehr Beschwörungen historischer Momente als tatsächliche historische Bezüge. Am deutlichsten erscheint die Differenz im Parteienspektrum bei den Geschichtsbildern zu sein, die sich um die Familie drehen. Nichtsdestotrotz dient Geschichte auch hier zur Abgrenzung oder zur Selbstvergewisserung. Wenig verwunderlich ist sich die Mehrheit der Parteien einig, welche Phasen der deutschen Geschichte als Verantwortung zu begreifen sind (Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Differenzen zeigen sich bei der DDR-Geschichte und noch mehr bei der deutschen Kolonialgeschichte). Schaut man nach der Selbstvergewisserung durch Geschichte, teilen erneut die meisten Parteien die Position, dass das deutsche „Goldene Zeitalter“ nach 1945 begann und sich durch die Westbindung auszeichnete und im demokratischen Westdeutschland stattfand. Gerne erwähnt werden die soziale Marktwirtschaft, die europäische Einigung, die (Wieder-)vereinigung und auch noch die Brandt‘sche Ostpolitik. Frühere Strukturen, Phänomene und Ereignisse, aber auch die Erfahrungen der DDR-Geschichte werden nur in Ausnahmefällen erwähnt. Die überparteilich propagierte Leitkultur beginnt eben doch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Auf den ersten Blick ist der Wahlkampf auf die Zukunft gerichtet. Doch erscheint diese Zukunft eher als das morgige Heute. Erwartungen und Pläne für eine offene Zukunft finden sich kaum. Etwas anders sieht das im rechten Spektrum jenseits der CDU aus, hier wird gerne auf eine positiv beschriebene Vergangenheit verwiesen. Allerdings beziehen sich diese Parteien weniger auf eine konkrete Vergangenheit als auf eine nostalgische Walt Disney Version eben dieser (besonders im offiziellen NPD-Wahlspot, in dem Großinquisitor Heiko Maaslos den NPD-Vorsitzen Frank Franz verbrennen will).
Die Art und Weise, wie sich im derzeitigen Wahlkampf auf Geschichte bezogen wird, ist plausibel, meist werden damit wichtige Werte vermittelt. Als Historikerin stößt es mir aber doch auf, dass gerade die Geschichtsbilder von Fortschritt und Modernisierung und letztlich oft auch westlicher Überlegenheit als Orientierung angeboten werden, die eine kulturgeschichtliche Geschichtswissenschaft seit mehreren Jahrzehnten zu überwinden versucht.
Ausgangsposition von Eva Schlotheuber
Der Brexit, so heißt es von europäischer Seite, sei eine „historische Fehlentscheidung“. Damit soll ganz offenbar die besondere Schwere und Dramatik der Sache auf eine kurze Formel gebracht werden. Aber warum historisch? Diese Entscheidung, so suggeriert diese Formulierung, wird einen Unterschied machen, eine Wende, von der die Geschichtsbücher reden und wovon sie alle weiteren Entwicklungen abhängig machen werden.
Das macht die Rolle der Geschichte im politischen Meinungskampf, was jeder Wahlkampf ist, recht deutlich: In einer zunehmend komplexen Welt wird die Geschichte die „Wahrheit“ erweisen. In dem Ringen um die Deutungshoheit im Jetzt, wird die Geschichte vielfach instrumentalisiert: nicht nur als regelmäßig aufgerufene Bezugspunkte der Vergangenheit, wie die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch in die Zukunft gerichtet: Sie wird die Folgen umstrittener Entscheidungen sichtbar machen, Zukunftsvisionen als wahr oder falsch erweisen und – wie rückblickend beim Tod von Helmut Kohl beschworen – die historische Bedeutung der Akteure.
Dass die Würdigung historischer Ereignisse immer von den Sichtweisen der eigenen Zeit und Gesellschaft abhängt, Geschichte also nicht „objektiv“ sein kann, dafür ist dann wenig Platz. Aber eben durch dieses Verhandeln und selektive Aufrufen der Geschichte nicht zuletzt im Wahlkampf, wird die Geschichte erst zum gemeinsamen Erfahrungsraum, sie wird trotz – oder vielmehr wegen und mit all den Kontroversen – zu der Basis, auf der wir die Probleme und Herausforderungen der eigenen Zeit verhandeln. Deshalb ist es so wichtig, dass viele mitreden und ihren Standpunkt einbringen. Denn letztlich formt sich aus diesem Erfahrungsraum die Erwartungshaltung an die politischen Akteure heraus, die in Demokratien eine wichtige Macht ist.
Wie wichtig diese selbständige Meinungsbildung ist, wussten die Frauen im Nürnberger Klarissenkloster schon vor mehr als 500 Jahren, die ihre mächtige Gemeinschaft mit einem großen Wirtschaftsbetrieb eigenständig leiteten. Ende des 15. Jahrhunderts schrieben sie in unruhigen Zeiten ihre Geschichte mit allen Problemen und Kontroversen nur für die eigene Gemeinschaft auf zum „Gedächtnis der vergangenen Dinge, damit wir uns selbst regieren können auch für die Dinge, die zukünftig zu tun sein werden.“
Der Geschichtstalk im Super7000
„Der Geschichtstalk im Super7000“ ist auf zunächst sechs Folgen angelegt, in denen es nicht darum gehen wird, Historikerinnen und Historiker in ihrer Profession als Historikerinnen und Historiker sprechen zu hören. Es geht nicht um das Nacherzählen von historischen Abläufen. Und es geht auch nicht um ein Fachgespräch. Worum es geht, ist ein Gespräch unter Bürgerinnen und Bürgern, die auch Geschichtsexperten sind, über aktuelle Debatten, in denen Geschichte eine wichtige Komponente ist. Kurz: Es geht um Public History, also das Aushandeln von Geschichte in der Gegenwart.
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