Die Hoffnung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges der Krieg zumindest in Europa dauerhaft gebannt sei, hat sich schon sehr bald als trügerisch erwiesen. Der Jugoslawienkrieg und spätere Kosovokrieg in den 1990er Jahren, 2014 und gegenwärtig der Ukrainekrieg zeugen von dieser enttäuschten Hoffnung. Und je nachdem wie man den Europa-Begriff fasst, wären noch der Tschetschenien-Krieg in den 1990er Jahren, der Georgienkrieg 2008 sowie die gewalttätigen Konflikte rund um Transnistrien und Berg-Karabach zu nennen. Alles blutige Auseinandersetzungen, die zum Forschungsbereich der Friedens- und Konfliktforschung und damit insbesondere zu den Sozialwissenschaften gehören. Eine dezidiert historische Perspektive auf die Entstehung von Kriegen und die Voraussetzungen für Frieden legt die Historische Friedens- und Konfliktforschung an. Der Historiker Prof. Dr. Jost Dülffer von der Universität zu Köln ist seit den Anfängen Mitglied des Arbeitskreises Historische Friedens- und Konfliktforschung (AKHF). Eigene Aufsätze zur Thematik hat er zuletzt in einem neuen Sammelband publiziert. Anlass genug, Professor Dülffer Fragen zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung auch mit Blick auf gegenwärtige kriegerische Konflikte zu stellen.
"Über Schlüsselbegriffe wie Frieden, Krieg, Gewalt und Konflikt herrscht keineswegs Einigkeit"
L.I.S.A.: Herr Professor Dülffer, zu Ihren zentralen Forschungsschwerpunkten gehört unter anderen die Geschichte Internationaler Beziehungen sowie die Historische Friedens- und Konfliktforschung. So sind Sie bis heute Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung, kurz: AKHF. Was war und ist der Untersuchungsgegenstand Historischer Friedens- und Konfliktforschung, was sind die Forschungsziele? Gibt es überhaupt Einigkeit über so grundsätzliche Begrifflichkeiten wie Frieden und Krieg? Wie lassen sich Begriffe wie Krieg, Konflikt und Gewalt voneinander abgrenzen? Und ab wann herrscht tatsächlich Frieden?
Prof. Dülffer: Natürlich gibt es eine lange Vorgeschichte bis ins 19. Jahrhundert, sicher sind die deutschen Ansätze auch immer ein Teil der internationalen Entwicklung gewesen. Und weiter: Es gibt einen Zusammenhang mit der entsprechenden politikwissenschaftlichen Forschung. Aber die Historische Friedensforschung entstand in der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren im Umfeld der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengesellschaft in Heidelberg und suchte damals - der spätere Bischof Wolfgang Huber war hier zentral -, eher ideengeschichtlich nach dem Umgang mit Frieden in den Kirchen und im sozialistischen Denken Schneisen zu schlagen. Ein Arbeitskreis Historische Friedensforschung wurde nach einigen Anläufen 1984 gegründet. Er verzichtete von vornherein auf einen gemeinsamen oder einheitlichen Friedensbegriff, sondern suchte unter dem Dach des AK, möglichst viele Dimensionen des Friedensbegriffs zu vereinen und damit ein Forschungsfeld für viele Forscher und Forscherinnen zu umreißen. Trotz aller Erfolge des AKHF fand und findet naturgemäß einschlägige Forschung weiter außerhalb dieses Kreises statt.
Begrifflich handelte es sich um ein breites Spektrum. Johan Galtung hat dies um 1970 pointiert benannt und entfaltet: Frieden ist für ihn im engeren Sinn die Abwesenheit von Krieg, also ein „negativer Frieden“; aber es geht im Weiteren bis hin zu einem „positiven Frieden“, der die Überwindung auch von struktureller Gewalt einforderte, letztlich also die Beeinträchtigung der Entfaltung menschlicher Möglichkeiten. Konkret gab es in den ersten Jahren im Arbeitskreis viele Personen, die Pazifismus und Friedensbewegungen als positiven Pol, Militarismus und Kriege als negativen Pol zum Schwerpunkt ihrer Arbeit machten. Hinzu kam eine sich erneuernde internationale Geschichte, die nicht mehr nur Außenpolitik und Diplomatie erörtern wollte, sondern Kriegsgefahren und Kriegsüberwindung in den Vordergrund rückte.
Seit gut einem Jahrzehnt suchte eine jüngere Generation die gehabten Schwerpunkte des Arbeitskreises dadurch zu verdeutlichen, dass sie den Begriff „Konflikt“ 2017 den Namen „Friedensforschung“ hinzufügte. Damit wurde deutlicher, was auch schon bisher der Fall war: Es ging in Aufnahme allgemeiner geschichtswissenschaftlicher Diskurse neben sozial- und politikgeschichtlichen Ansätzen auch verstärkt um kulturgeschichtliche, kunstgeschichtliche, pädagogische, linguistische Sichtweisen. In den letzten Jahren hat sich der Trend verstärkt, nicht nur nach neuen methodischen Ansätzen zu suchen, sondern auch Anregungen zu sammeln, wie historische Konfliktforschung auf weitere Themenbereiche ausgedehnt und multidisziplinär ausgeweitet werden kann. Ein neuer Sammelband aus diesem Jahr über Historische Friedens- und Konfliktforschung von Susanne Schregel, Daniel Gerster und Jan Hansen führt diese Strategien zur möglichen Erweiterung weiter aus.
Wie bereits angedeutet wurde, herrscht auch über die Schlüsselbegriffe wie Frieden, Krieg, Gewalt und Konflikt keineswegs Einigkeit. Sie markieren ein Forschungsfeld oder auch: Zugriffe der Forschung, die auch Verbindungen mit anderen Feldern der Geschichtswissenschaft oder mehrerer Sozialwissenschaften anbieten. Für diese gilt jeweils: Es gibt einen härteren Kern von Krieg, Gewalt, Konflikt, aber auch eine weitere Bedeutung - wie in Galtungs Vorstellung vom positiven Frieden auch alle Möglichkeiten indirekter Gewalt von Menschen über Menschen eingeschlossen waren. Das hat ein utopisches Potenzial, zeigt aber, dass die Umsetzung von Frieden historisch jeweils temporär und unvollkommen war. Völkerrechtler haben hier einen klareren Begriff, der für Historiker aber in der sozialen, politischen und kulturellen Welt unvollkommen bleibt und immer wieder umkämpft ist. In Anlehnung an Immanuel Kant muss Frieden also wohl immer wieder „gestiftet“ werden. Was auch immer man unter Konflikten verstehen kann: Sie sind universell in menschlichen Gesellschaften vertreten, sind Formen des Austrags zwischen mehreren Seiten - von der Familie über das Arbeitsleben bis hin zur innergesellschaftlichen wie zwischenstaatlichen Ebene; sie können dabei negative Wirkungen entfalten, so dass man sie mit dem Begriff der Deeskalation fruchtbar thematisieren kann, aber sie vermögen auch positive Wirkungen im dialektischen Sinn haben und konstitutiv u.a. für pluralistische Gesellschaften und deren Wandel sein. Krieg bleibt nach wie vor ein zentraler negativer Bezugspunkt für das Forschungsfeld. Man sollte ihn als zwischenstaatlichen wie innerstaatlichen Akt der kollektiven Tötung von Menschen ansehen. Dabei sind Staaten die wichtigsten Akteure, aber auch vielfältige andere soziale Gruppen sind dabei beteiligt – im Rahmen von Staaten, aber vor allem in Bürgerkriegen auch davon unabhängig. Sie sind die eigentlichen großen Gewaltakte, welche auch durch historische Forschung thematisiert werden. Dabei sollte ein breites Spektrum von staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt unterhalb dieser Schwelle mit einbezogen werden.